Hilfe aus Lenggries nach der Flut:Einfach mal rauskommen

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Jürgen und Bärbel Zörner haben bei der Flutkatastrophe im Ahrtal viel verloren. In der Pension Kobinger in Lenggries können sie ein bisschen durchschnaufen. Die Wirtin spendiert ihnen einen Kurzurlaub.

Von Kathrin Müller-Lancé, Lenggries

Es gibt wohl kaum Feriengäste, denen man die Septembersonne und den klaren Blick auf die Voralpen so sehr gönnt wie ihnen: Jürgen und Bärbel Zörner, 64 und 60 Jahre alt, haben bei der Flut im Ahrtal viel verloren. Die beiden stammen aus Dernau, einem 1800-Einwohner-Ort im Norden von Rheinland-Pfalz. Das Wasser hat ihr Haus weitestgehend zerstört. "Alles, was wir noch an brauchbaren Einrichtungsgegenständen hatten, hat auf einen Anhänger gepasst", erzählt Bärbel Zörner.

Jetzt sitzen sie und ihr Mann an einem Gartentisch in Lenggries, im Rücken ein paar Weinreben, zur Linken ein Topf mit Auberginen. Der Garten gehört zur Pension Kobinger, deren Wirtin die Gäste aus dem Ahrtal kostenlos bei sich urlauben lässt. Die ursprüngliche Idee dazu stammt von der Tourist-Information Lenggries. "Wenn ich von solchen Schicksalen höre, bin ich sofort dabei", sagt Annemarie Kobinger. Den Kontakt vermittelt habe schließlich ein Stammgäste-Paar aus Bonn, das schon seit Jahren mit Zörners befreundet ist. "Ich hatte erst Sorge, dass die Menschen im Ahrtal vielleicht überhaupt keinen Kopf für Urlaub haben", sagt Kobinger. Ihre Gäste aber sind dankbar dafür. "Uns tat es gut, einmal rauszukommen", sagt Bärbel Zörner. Insgesamt fünf Nächte verbringt das Ehepaar in einem Doppelzimmer in der Pension.

Die Fotos und Videos, die Bärbel Zörner auf ihrem Handy zeigt, stehen im Kontrast zur oberbayerischen Idylle ringsherum: Es war gegen 22 Uhr abends, erinnert sie sich, als sie auf einmal etwas plätschern hörte. Auf Video hat sie aufgenommen, wie das braune Wasser langsam aber stetig in den Keller rann. Später wurde auch das Erdgeschoss des Hauses komplett überflutet, sogar im Obergeschoss stand das Wasser. "Wir haben an der Kommode gesehen, wie der Pegel gestiegen ist - Knopf für Knopf", erzählt Jürgen Zörner. Später seien die Schränke umgefallen, Gläser und Teller zerbrochen. "Ich erinnere mich noch genau an diese Geräusche", sagt seine Frau. Als der Strom irgendwann nicht mehr funktionierte, stellten die Zörners in der Wohnung Kerzen auf und leuchteten mit der Lampe des Handys.

Bärbel Zörner scrollt durch die Fotos. Eine Tür liegt im Wohnzimmer auf dem Boden. Vor dem Haus schwimmt ein Kühlschrank durchs Wasser. Auf dem Friedhof liegt ein kaputtes Auto. Normalerweise sei die Ahr eher ein Rinnsal als ein reißender Fluss, erklärt Jürgen Zörner. Der übliche Pegelstand liege etwa bei 40 Zentimetern. Am Abend des Hochwassers sei er auf über sieben Meter angestiegen.

"Wir sind null informiert worden", ärgert sich Bärbel Zörner über das Handeln der Politik in der Krise. "Man hätte vielleicht nicht Haus und Hof retten können, aber Menschenleben", sagt ihr Mann. Die Nachbarn, eine älteres Ehepaar in einem Bungalow, hätten sich abends schlafen gelegt - und seien im eigenen Haus ertrunken. Wenn die Zörners davon sprechen, dass sie mit dem Leben davongekommen seien, klingt das nicht wie eine Floskel.

Um sich am Tag nach der Flut irgendwie zu beschäftigen, habe sie mit einem Besen und einem Kuchenblech Schlamm aus der Haustür gekehrt, erzählt Bärbel Zörner. Als ein Einsatzwagen von der Bundeswehr kam, um sie zu einer Art Auffangstation zu bringen, hatte das Paar eine halbe Stunde Zeit, um die wichtigsten Dinge einzusammeln. "Dann haben wir unsere Taschen gepackt", sagt Jürgen Zörner. "Taschen ist gut", unterbricht seine Frau, "wir hatten halt Plastiktüten."

Bis auf die Hülle steht von dem Haus des Ehepaars kaum noch etwas. Die beiden sind übergangsweise in die sechs Kilometer entfernte Wohnung von Bärbel Zörners Schwester gezogen. Sie schätzen, dass es wohl bis Weihnachten nächstes Jahr dauern wird, bis sie wieder in ihrem alten Haus wohnen können. Der Staat hat finanzielle Hilfen angekündigt. Als Buchhalterin und Steuerberater sind die Zörners immerhin geübt im Stellen von Anträgen. Allerdings fehlten ausreichend Handwerkerfirmen, die sich um den Aufbau kümmern könnten, sagt Jürgen Zörner. "Wir sind ja nicht die einzigen, die jemanden brauchen, der anpackt". Von 612 Häusern im Dorf seien 542 vom Hochwasser zerstört worden.

Was das Ehepaar nach wie vor sichtlich bewegt, ist die Hilfsbereitschaft von Menschen aus ganz Deutschland, die ins Ahrtal kamen, um den Aufbau zu unterstützen. Bärbel Zörner zeigt noch einmal das Foto von dem zerstörten Friedhof - und ein anderes, auf dem die Grabsteine wieder ordentlich stehen. "Innerhalb von zwei Tagen haben die diesen Ort wieder hergerichtet, das rührt mich." Ohne die Hilfe von außen lägen wohl heute noch überall haushohe Müllberge herum, vermutet sie.

Nach der Katastrophe ganz aus dem Ahrtal wegzuziehen, kam für das Ehepaar nicht in Frage. Bärbel Zörner sagt: "Wir wohnen seit 30 Jahren hier, das ist unser Zuhause." Ihr Mann ergänzt: "Aber natürlich sind das Tage und Stunden, die man nicht mehr vergisst in seinem Leben."

Ihre knappe Woche Urlaub in der Pension Kobinger wollen die beiden nutzen, um etwas durchzuschnaufen nach den anstrengenden vergangenen Monaten. In Bayern waren sie zwar schon öfter, in Lenggries aber noch nie. "Es gefällt uns hier sehr gut, die Berge sind wunderschön", sagt Bärbel Zörner. Nach einer Fahrradtour am Vortag wollen sie an diesem Nachmittag vielleicht nach Bad Tölz fahren. Und eine Wanderung aufs Brauneck ist auch geplant. "Ich hoffe so, dass das Wetter gut bleibt", sagt Wirtin Annemarie Kobinger. Am Vorabend hatte es geregnet. "Ach, da sind wir anderes gewöhnt", sagt Jürgen Zörner. Es klingt erleichtert.

© SZ vom 01.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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