Typisch deutsch:München, Stadt der Helikopter-Eltern

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Gut behütet oder gut bewacht: Irgendwo dazwischen wachsen viele Kinder in München auf. (Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Viele Väter und Mütter haben eine starke Tendenz, ihre Kinder 24 Stunden am Tag zu beschützen. In der Heimat unserer Autorin war es für sie und Gleichaltrige ganz normal, mal allein gelassen zu werden.

Kolumne von Lillian Ikulumet

Vergangenen Samstag, als ich das Abendessen zubereitete, stellte ich fest, dass mir Salz fehlte. Also stand ich vor einer schwierigen Entscheidung. Mein Kind alleine zu Hause zu lassen und raus zu hetzen, um Salz aus dem Supermarkt zu kaufen. Oder sie anzuziehen und mitzunehmen. Da der Supermarkt nur wenige Minuten entfernt war - und es draußen regnete -, entschied ich mich, alleine raus zu rennen. Als ich nach zehn Minuten zurückkam, stellte ich fest, dass meine Kleine die Backmehl-Packung entdeckt und über die Couch verbreitet hatte. Wie sagt der Bayer so schön? Ja mei.

Münchens Eltern sagen selten ja mei. Meiner Erfahrung nach haben viele Väter und Mütter eine starke Tendenz, ihre Kinder 24 Stunden am Tag zu beobachten und zu beschützen. Auf den Spielplätzen wird man Zeuge, wie Eltern ihre Kinder bis zum Sandkasten begleiten und dort verweilen wie Leibwächter. Und wenn eine Alleinerziehende das Mietshaus alleine verlässt, darf sie sich auf argwöhnische Blicke von den Nachbarn gefasst machen.

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:Die Regierung der Ampel

Es gibt Momente, da kann man ruhig bei Rot über Münchens Fußgängerampeln gehen. Diese Ansicht teilte unsere Autorin solange, bis ihre Tochter laufen lernte.

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In Uganda war es für mich und Gleichaltrige ganz normal, allein gelassen oder zum Spielen mit Nachbarskindern geschickt zu werden. Schon als Kleinkind. Wenn es bei den Eltern spät wurde, blieb man beim Nachbarn zum Abendessen, manchmal fanden die Eltern uns sogar schlafend vor. Hier würde man mit solch einem Verhalten wahrscheinlich in Konflikt mit den Behörden geraten. Wegen Vernachlässigung. Ich persönlich habe das immer anders gesehen. Eher als Vorbereitung auf das Leben.

In Deutschland, dem Land der Regeln, gibt es hierfür selbstverständlich ein Gesetz: Ab vier Jahren darf man sein Kind für kurze Zeiten von etwa zehn bis 15 Minuten alleine lassen. Wobei sich die Frage stellt: Wenn ein Kind vier Jahre lang gewohnt ist, rund um die Uhr betreut zu werden, sollte man es dann überhaupt noch alleine lassen?

Es geht darum, zu vermeiden, dass ein unbeaufsichtigt zu Hause gelassenes Kind in Not gerät. Die meisten meiner Freunde werden ziemlich paranoid, wenn sie ihre Kinder allein lassen. Vielleicht auch, weil sie befürchten, dass ihnen ihr Kind von den Behörden weggenommen wird, wenn die Nachbarn petzen.

Dies ist kein Plädoyer für die Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Erst recht nicht in der Großstadt München, wo es bei diesem Thema um Leben und Tod gehen kann. Aber irgendwann muss man einem Kind beibringen, dass es in Ordnung ist, eine Weile allein zu sein, dass ihm nichts Schlimmes passieren wird und dass man ihm vertraut. Je extremer und länger ein Kind sich im Rund-Um-Helikopter-Schutz wähnt, desto schwieriger kann dieser Schritt werden.

Ich persönlich nenne meine Tochter meine Handtasche, weil ich sie fast überall mitnehme, es sei denn, sie ist im Kindergarten. Ich habe sie schon zu mehreren Meetings mitgenommen, weil es schwierig ist, einen Babysitter zu finden. Und manchmal gibt es eben kurze Ja-mei-Momente, in denen meine Tochter die Konsistenz von Backmehl kennen lernt.

© SZ vom 09.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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