Marente de Moor: "Phon":Tief sind die russischen Wälder

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Die niederländische Autorin Marente de Moor hat mehrere Jahre als Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg gearbeitet.

(Foto: Eddo Hartmann)

Marente de Moor erzählt in "Phon" von der tiefen Sehnsucht des Menschen, sich mit einer Natur zur verbinden, die ihn nicht braucht.

Von Meike Fessmann

Man nannte ihn den "Noah von Westrussland", mittlerweile sieht er eher aus wie ein zerzaustes Mammut. Wenn Nadja, die Erzählerin, ihren Mann in den Blick nimmt, zerfällt er zu Staub. Die ganze frühere Pracht ist dahin, sein Selbstbewusstsein, seine Stärke, sein Geist, alles verschwunden. Manchmal bekommt er eine Erektion, wenn sie ihm beim Aufstehen hilft. Das findet sie unangemessen, lächerlich. "Wir schauen auf den sinnlosen Haufen Männlichkeit auf dem Bett, da drinnen schnarcht es schon, die Träume taumeln in sein Hirn", heißt es einmal. Was sich anhört wie das Drama eines alternden Ehepaars ist weit mehr. "Phon", der neue Roman der niederländischen Schriftstellerin Marente de Moor, lauscht hinein in die russischen Wälder - und ortet dort die Widersprüche der Gegenwart.

Wie kommt es, dass wir die Natur so mystifizieren, ausgerechnet im Stadium ihrer maximalen Ausbeutung? Woher rührt der Kult um die Wildnis? Wie weit will der Mensch die Natur eigentlich züchten? Immer weiter in die Richtung, in der andere Lebewesen seinen Bedürfnissen immer exakter angepasst werden, mit allen unabsehbaren Folgen, oder zurück, in eine per Molekulargenetik rekonstruierte Vergangenheit, in der das ausgestorbene Mammut tatsächlich durch die von Zivilisationsmüll verseuchten Wälder stapfen würde? Freilich wäre auch das nur ein weiterer Versuch des Menschen, die Natur seinen Bedürfnissen anzupassen.

Ein Forscher-Paar zieht von der Stadt in den Wald, um unabhängiger zu sein

"Phon" ist keine Dystopie, sondern ein starker Gegenwartsroman. Er bleibt konkret, ist im Jetzt und der jüngeren Zeitgeschichte verankert. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion, die gescheiterten Hoffnungen von Glasnost und Perestroika, die Verarmung der Landbevölkerung, Putins Posen als Bezwinger der Natur und Retter der russischen Vormachtstellung bilden den Nährboden, auf dem er gedeiht. Er erzählt eine Geschichte des Verfalls, in der sich persönliche und menschheitsgeschichtliche Motive überlagern. Und er macht das mit schwindelerregender Düsternis, indem er die Geschichte durch ein weibliches Bewusstsein jagt, das voller Wut und Frustration steckt.

Erst mit der Zeit wird deutlich, dass Nadja weit mehr zu ertragen hat als nur den Abschied von ihrem Mann, wie er früher einmal war, und den Abschied von dem Bild, das sie von sich hatte. Eigentlich ist sie gar nicht so alt, Anfang fünfzig. Lew ist siebzehn Jahre älter und leidet unter einer Amnesie. Er war einst Professor der Zoologie in Leningrad, Nadja seine Schülerin, als sie sich verliebten. Die Neunzehnjährige wusste sofort, dass sie ein Kind von ihm will, noch während der Schwangerschaft zogen sie in den Wald, zehn Zugstunden von Leningrad entfernt, um dort eine Forschungsstation zu gründen. "Das Laboratorium der Unabhängigkeit", eröffnet im Orwell-Jahr 1984, ist ein Zeichen ihrer Zuversicht. Ihre Diplomarbeit über die Evolution der Echoortung bei Mikrofledermäusen gab Nadja auf, zugunsten der Tierbeobachtung in freier Wildbahn.

Das erste Kind, Vera, ist schön, verspielt und eigenwillig, nach der Pubertät zieht es sie in die große Stadt. In St. Petersburg gerät sie ins Drogenmilieu, konsumiert das billige "Krokodil", ein Opioid, das Anfang der 2020er-Jahre Russland überschwemmte. Nach einem verzweifelten Telefonanruf startet Nadja einen Rettungsversuch und fährt mit dem Zug zum ersten Mal wieder ins frühere Leningrad. Doch sie kehrt allein zurück.

Der Trost des Lokführers, es gebe immer einen nächsten Zug, mit dem die Tochter kommen könne, bildet eines der Leitmotive des Romans. Sohn Dimka ist abgerutscht ins Milieu von Verschwörungsmythen. Das Reaktorunglück von Tschernobyl habe nie stattgefunden, behauptet er, es sei ein "Bluff" der USA gewesen, um die Sowjetunion zu destabilisieren.

Gott war ein Tier, das wir ausgerottet haben, heißt es an einer Stelle des Romans

Marente de Moor, die mehrere Jahre als Korrespondentin für niederländische und russische Medien in St. Petersburg gearbeitet hat, überlagert die globale Katastrophengeschichte verschwindender Biodiversität und aussterbender Arten so geschickt mit der persönlichen Geschichte des Paars, dass sie einander potenzieren. Wie sein Vorgänger, "Aus dem Licht", verarbeitet "Phon" naturwissenschaftliche Erkenntnisse und setzt sie in Beziehung zum Imaginären. Brauchen wir Märchen, Mythen, Träume, oder legen sie nur unseren Handlungsmuskel lahm? Gott war ein Tier, das wir ausgerottet haben, heißt es einmal. Stattdessen haben wir die Natur an seine Stelle gesetzt, die wir anbeten, während wir sie zerstören.

Die Forschungsstation von Nadja und Lew verwandelt sich im Lauf der Jahre in ein Sommercamp, in dem verwöhnte Jugendliche den Umgang mit Tieren lernen. Esther, eine holländische Journalistin, die sich als Wissenschaftlerin gebärdet, organisiert das Ganze. Bis es zu einem folgenreichen Unfall mit einer Bärin kommt, eine in Nadjas Erinnerung gut verkapselte Katastrophe, die der Roman in einer Szenerie aus gleißenden Bildern, Märchen-Elementen und Albtraum inszeniert.

Marente de Moor: "Phon": Marente de Moor: Phon. Roman. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser, München 2021. 336 Seiten, 23 Euro.

Marente de Moor: Phon. Roman. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Hanser, München 2021. 336 Seiten, 23 Euro.

"Phon" ist auch ein Roman über Einsamkeit, Isolation und Angst. Lew wird seit jenem Jahr, an das sich die Erzählerin nicht erinnern möchte, von Angst gequält. Seine Amnesie ist eine Schutzreaktion, die Nadja umso tiefer in die Verzweiflung stürzt. Sinnbild der Bedrohung ist ein markerschütterndes, rätselhaftes Geräusch, das vom Himmel dröhnt. Ein Geistlicher, der allerdings nur ein verkleideter Taxifahrer ist, behauptet, es seien die Posaunen der Apokalypse. Nadja hat in Kinderjahren von ihrem Vater eine andere Erklärung bekommen: "Was du hörst und wir längst nicht mehr (...), ist das Phon. Das Hintergrundrauschen des Lebens. Die ganze Geschichte steckt darin, vom schönsten Lied bis zum angsterfüllten Schrei, aber fürchte dich nicht. Menschen, die sich vor Geräuschen fürchten, fürchten sich vor ihrer Fantasie. Sie verschließen ihr geistiges Auge und rufen, so laut sie können: Es ist nicht echt! Aber die Fantasie gibt es, Nadja, nicht nur im Kopf. Sie ist ein Naturphänomen wie alles andere und gleitet auf dem Phon dahin wie ein Zug auf Schienen."

Für Russen bedeute die Wildnis "Verzicht", heißt es einmal, für Leute aus dem Westen sei sie eine Ersatzreligion. Allerdings müssten sie sich vorstellen, "der Natur unter die Arme" zu greifen, ihr Verhältnis zur Wildnis sei idealistisch und sentimental. Wie groß die Sehnsucht ist, dieser Sentimentalität zu entgehen, zeigt der Erfolg des autobiografischen Berichts "An das Wilde glauben" der französischen Anthropologin Nastassja Martin, die auf der russischen Halbinsel Kamtschatka bei einer Forschungsexpedition einem Bären begegnete, der ihr Gesicht zerbiss und ihren Schädel brach.

Vielleicht ist etwas dran an der Überlegung, die Wildnis sei für den zivilisationsmüden Westen eine Ersatzreligion. In Marente de Moors brillantem Roman genügt am Ende die Fantasie, um ein Mammut in die russischen Wälder zu setzen. Dass auch dies eine Form anthropomorpher Aneignung ist, steht außer Frage.

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