Indigene in Chile:Kein Land in Sicht

Indigene in Chile: Indigene Machupe, die sich unterdrückt fühlen, bei Zusammenstößen mit der Polizei im Zentrum Santiagos.

Indigene Machupe, die sich unterdrückt fühlen, bei Zusammenstößen mit der Polizei im Zentrum Santiagos.

(Foto: Martin Bernetti/AFP)

Der erbitterte Konflikt im Süden von Chile zwischen indigenen Mapuche und dem Staat eskaliert. Es geht dabei um den Besitz von Grundstücken und das Gefühl, in die Armut gedrängt zu werden.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Am Ende kann man nur spekulieren, ob das Datum ein unglücklicher Zufall war - oder doch bewusst gewählt: Diesen Dienstag hat Chiles Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand verhängt über vier Zonen in den Regionen Bío Bío und Araucanía.

Es gehe darum, gegen "die schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung" in dem Gebiet vorzugehen, sagte Piñera, es geht aber auch um einen Konflikt, der seit Jahrzehnten im Süden Chiles tobt: Mapuche gegen Polizisten, Indigene gegen Staat und die Nachfahren europäischer Siedler. Längst ist eine Spirale der Gewalt in Gang, Forstmaschinen und Kirchen gehen in Flammen auf, Landbesitzer werden angegriffen, Polizeiautos beschossen. Gleichzeitig gehen Sondereinheiten der chilenischen carabiñeros gegen Mapuche-Aktivisten vor, es fallen Schüsse, es gibt höchst umstrittene Verhaftungen, Berichte über Folter und längst auch Tote. Erst am Sonntag kam eine Studentin in Chiles Hauptstadt Santiago ums Leben, als Polizisten gegen eine Demonstration der Mapuche vorgingen.

Nun also auch noch die Verhängung des Ausnahmezustands: Er habe die Entsendung von Soldaten angeordnet, erklärte Präsident Piñera am 12. Oktober, ausgerechnet jenem Tag also, an dem in ganz Amerika der sogenannten Entdeckung des Kontinents durch Kolumbus gedacht wird.

Vor allem für indigene Gemeinschaften ist es jedoch ein Tag der Trauer, denn für sie markiert er den Beginn von Jahrhunderten der Verfolgung und Unterdrückung. Die Mapuche in Chile und Argentinien waren dabei eines der Völker, das den Eindringlingen aus Europa am längsten und auch erfolgreichsten Widerstand leistete. 1641 sahen sich die Spanier sogar gezwungen, die Autonomie der Mapuche formell anzuerkennen, ein Erfolg, der einzigartig ist in Amerika.

Die Mapuche-Frage spaltet die Bevölkerung

Erst nach der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert schaffte es der neu geschaffene chilenische Staat die Mapuche zu unterwerfen, mit modern ausgerüsteten Truppen und dem unbedingten Willen, die riesigen Flächen im Süden nutzbar zu machen. Nach dieser sogenannten "Befriedung Araukariens" wurden die Mapuche in Reservate zurückgedrängt, Millionen Hektar Land wurden an Großgrundbesitzer und Siedler vergeben, darunter viele Deutsche. Sie verwandelten die Gebiete in fruchtbare Landschaften, auf grünen Weiden grasen heute Rinder und Schafe, in riesigen Wäldern wachsen Pappeln und Eukalyptus für die boomende Holzwirtschaft.

Die Mapuche dagegen leben größtenteils in Armut. Sie machen etwa zehn Prozent der chilenischen Bevölkerung aus, sind aber in Wirtschaft und Politik stark unterrepräsentiert. Unter der blutigen Militärdiktatur, die Chile von 1973 bis 1990 beherrschte, wurden Aktivisten verfolgt und inhaftiert. Erst nach der Rückkehr zur Demokratie flammten die Forderungen nach Autonomie und Landrückgaben wieder auf.

Eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht, stattdessen nimmt die Gewalt seit einigen Jahren weiter zu. Immer verfahrener wird die Situation; längst seien Drogenbanden in die Auseinandersetzungen verstrickt, sagen Behörden und Politiker. Die Mapuche wiederum beklagen die Infiltrierung ihrer Proteste durch die Polizei, Folter und Mord.

Die Mapuche-Frage spaltet die Bevölkerung: Bei den sozialen Protesten, die Chile seit Jahren immer wieder erschüttern, wehen immer auch Mapuche-Fahnen. Gleichzeitig gibt es viele Chilenen, die den Forderungen der Mapuche kritisch gegenüberstehen und keinerlei Verständnis haben für Landbesetzungen, Brandstiftung und Gewalt.

Der Präsident steht vor der Wahl enorm unter Druck

Dass Präsident Piñera ausgerechnet jetzt, an jenem denkwürdigen 12. Oktober, den Ausnahmezustand über Teile der Konfliktregion verhängt hat, dürfte darum nicht nur an der zunehmenden Gewalt liegen: Piñera ist in den vergangenen Tagen stark unter Druck geraten, nachdem durch die sogenannten Pandora Papers vermutlich unlautere Geschäfte während seiner Amtszeit öffentlich geworden sind. Der Generalstaatsanwalt ermittelt, es gibt Proteste und Präsident Piñera braucht jede Unterstützung, die er bekommen kann, um es bis zu den nächsten Wahlen zu schaffen.

Sie finden Mitte November statt und die Umfragen führt derzeit Gabriel Boric, ein ehemaliger Studentenführer mit dichtem Bart und linken Ideen. Gleichzeitig ist noch ein weiterer politischer Prozess in Gang: Eine Verfassungsgebende Versammlung hat vor ein paar Wochen ihre Arbeit aufgenommen, angeführt von Elisa Loncón, einer Hochschullehrerin und Mapuche-Aktivistin. Loncón kritisierte die Ausrufung des Notstands scharf: Was die Menschen wirklich bräuchten, sagte sie, seien politische und wirtschaftliche Lösungen, um die Armut zu überwinden, in der viele Mapuche leben.

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