Talkshow:Auf der verlorenen Suche nach der Zeit

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Schauspieler Jan Josef Liefers und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach diskutieren bei Maybrit Illner. (Foto: ZDF/Svea Pietschmann; ZDF/Svea Pietschmann/ZDF/Svea Pietschmann)

Bei Maybrit Illner tastet man nach einer Zukunft ohne Corona-Beschränkungen. Karl Lauterbach bleibt sich treu und zerstreut voreilige Euphorie. Und Jan Josef Liefers ist der gefühlige Seismograph der Gesellschaft.

Von Marlene Knobloch

Lob ist vergänglich. Besonders das von Karl Lauterbach, das schneller schlecht wird als rohes Hack. Am Freitag noch lupfte der SPD-Politiker auf Twitter seinen Hut vor dem reuevollen Schauspieler Jan Josef Liefers ("Chapeau!"), weil er als Praktikant auf einer Corona-Station im Krankenhaus half. Ein Bild-TV-Interview mit anhaltendem Unverständnis über die Corona-Politik später nimmt Lauterbach alles zurück und schickt den Schauspieler wieder in die Saulus-Ecke: "Er hat gar nichts gelernt." Beide sitzen sich an diesem Abend bei Maybrit Illner gegenüber, um mit dem Virologen Klaus Stöhr sowie Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, das Sendungsmotto "Geimpft, getestet, genervt - mehr Freiheit wagen?" zu diskutieren. Aber das Datum, bis zu dem die Corona-Beschränkungen noch haltbar sind, findet sich auch am Sendungsende nicht. Ebenso wenig wie die Antwort, was genau ein Schauspieler in der Runde soll.

Zu Beginn geht es um den Bericht des Robert-Koch-Instituts, nach dem die Quote der geimpften Erwachsenen um bis zu fünf Prozentpunkte höher sein soll als bisher angenommen. Bis zu 84 Prozent sollen demnach bereits die erste Impfung erhalten haben. Die Runde schimpft reflexartig los, Lauterbach zählt Fehler bei der Impfregistrierung auf, der Virologe Stöhr prangert die "Datenwüste" Deutschland an und der von Maybrit Illner angekumpelte "Jan Josef" verkündet: "Angst macht uns unkreativ." Und schafft das Kunststück, vor Verschwörungsmärchen zu warnen und einen Satz später über diese Impfung zu sprechen, "über die im Internet irre Storys kursieren".

Maybrit Illner wagt es, in die schlecht gelaunte Gesellschaft Euphorie zu streuen, ob das nicht eigentlich eine gute Nachricht sei, dass mehr Menschen immun seien als man dachte. Immerhin leuchtet im Studiohintergrund eine Collage aus Impfdosen und dem Hashtag #Freedomday, nur am Rand spitzt noch ein Zipfelchen der Coronavirus-Kugel ins Bild. "Sollten wir uns nicht freuen?", fragt sie Karl Lauterbach, der niedergeschlagen antwortet: "Natürlich." Allerdings sei der Unterschied zur angenommen Quote doch nicht so groß und in Richtung quengelnder Schauspieler mahnt er: "Wir sind immer noch nicht da."

Die restliche Sendung ist eine verlorene Suche nach der richtigen Zeit. Kommt der Freedom Day in Deutschland wie er etwa in Dänemark mit einer Impfquote bei Erwachsenen von 75 Prozent gefeiert wurde? Und wenn ja, wann? Ute Teichert will sich bei der Suche gar nicht beteiligen, eine Grenze sei "willkürlich", die Diskussion um einen Freedom Day nicht richtig. Und zerreißt alle Kalenderblätter mit dem sich in den Schwanz beißenden Satz: "Wir müssen die Zeit überbrücken, die wir noch vor uns haben."

Lauterbach dämpft die Sehnsüchte des nach dem Wurstzipfel schnappenden Liefers, aber lässt sich mit "idealerweise 95 Prozent oder über 90" immerhin auf eine konkrete Zahl ein. Im Gegensatz zu Klaus Stöhr, der als Gegenspieler des SPD-Gesundheitspolitikers vor dem "Angstgefühl" in der Gesellschaft warnt. "Irgendwann" müsse man zur Normalität zurückkehren. Sein Blick schweift Richtung Ewigkeit, als er über die Impfung für Kinder spricht und stellt fest: "Solange wir denken können, wird das Virus zirkulieren."

Dass zuvor Karl Lauterbach den Unterschied zwischen einer normalen Atemwegserkrankung und Covid-19 erklärt hat, hält Jan Josef Liefers am Ende nicht davon ab, darauf hinzuweisen, dass es immer Krankheiten geben werde. "Wir sollen Infekte haben." Dann holt der Schauspieler noch mal weiter aus und versucht sich als Seismograf der Gesellschaft. Er erinnert an die vielen aufgebrachten Menschen, da sei ein Riss, wir müssten von unseren Bäumen herunterkommen, man müsse - und da nickt selbst Ute Teichert leicht - andere Meinungen aushalten, auch die Gründe, sich nicht impfen zu lassen. Das könne sonst ganz schön viel Porzellan zerschlagen.

Die Risse zwischen ihm und Lauterbach heilen an diesem Abend ein klein wenig. Lauterbach gesteht, seine Kritik an Liefers sei "vielleicht ein bisschen hart" gewesen. Vielleicht sollte man beim Anstoßen trotzdem erst mal auf Metallbecher vertrauen. Die halten stand.

Marlene Knobloch ist streamende Autorin, träumt aber von Fernsehern in Küche und Schlafzimmer. Jeden Sonntag könnte sie dann linear zu den Kommen-Sie-gut-in-die-Woche-Wünschen der Nachtmagazin-Moderatoren mit Tausenden Zuschauern in Deutschland wegdösen. Bis dahin schaut sie beim Kartoffelschälen alte Harald-Schmidt-Folgen auf ihrem Laptop. (Foto: Illustration: Bernd Schifferdecker)
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