Türkei:Letzter Besuch am Bosporus

Bundeskanzlerin Merkel zu Besuch in Istanbul

Sehr lange im Amt: Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

(Foto: Ahmed Deeb/picture alliance/dpa)

Präsident Erdoğan ist noch länger an der Macht als Kanzlerin Merkel. Ihre Abschiedsreise in die Türkei kam zu einem Zeitpunkt, in dem Erdoğan angeschlagen wirkt. Nicht nur politisch, sondern auch gesundheitlich. Bilanz einer schwierigen Beziehung.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Als Angela Merkel an diesem Samstag nach Istanbul geflogen ist, wartete auf sie ein alter, vielleicht sogar guter, sicher aber nicht immer geliebter Bekannter: Recep Tayyip Erdoğan. Der Türke ist noch länger an der Macht als die deutsche Kanzlerin mit ihren 16 Jahren Amtszeit. Erdoğan bestimmt die Geschicke seines Landes seit fast 20 Jahren und das zunehmend autoritärer.

Die Kanzlerin, die gerade auf Abschiedstour durch die verschiedensten Staaten ist, hat Erfahrung im Umgang mit dem oft schwierigen Mann in Ankara. Sie hat im Mittelmeerstreit zwischen der Türkei und Griechenland vermittelt. Sie hat das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei mit auf den Weg gebracht und nun auch erneut Thema war zwischen ihr und Erdoğan. Merkel will das Sechs-Milliarden-Euro-Abkommen fortsetzen. Es sei wichtig, dass die EU die Türkei weiter "bei der Bekämpfung der illegalen Migration" unterstütze und diese auch in Zukunft gewährleistet werde, sagte die Kanzlerin.

"Wir merken, dass wir geostrategisch voneinander abhängen, ob wir gleich agieren oder nicht", sagte sie. Sie rate und denke, dass auch eine zukünftige Bundesregierung die Beziehungen zur Türkei in ihrer gesamten Komplexität erkenne. Man müsse miteinander reden, betonte sie und dann auch Kritik etwa bei Menschenrechtsfragen anbringen. Erdoğan würdigte die "Freundin" und "teure Kanzlerin" als erfahrene Politikerin, die immer einen "vernünftigen und lösungsorientierten Ansatz" gepflegt habe. Er hoffe, die gute Zusammenarbeit auch mit einer neuen Regierung fortführen zu können.

Dass es außenpolitisch bald zu einer ernsten Konfrontation kommen kann, ist Merkel bei ihrem Besuch klar. Sie weiß, dass Ankara sehr wahrscheinlich einen neuen Militäreinsatz in Syrien plant und damit neuer Streit mit den USA programmiert ist - Washington unterstützt die syrischen Kurden. Und bei all dem dürfte Merkel kaum vergessen, dass das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei mehr ist als nur eine Beziehung zwischen zwei Staaten: Millionen von Menschen in Deutschland haben familiäre Wurzeln in der Türkei, weshalb Erdoğan die türkische Innenpolitik und den Wahlkampf gern auch mal nach Deutschland schwappen lässt.

Vor Kurzem fiel Erdoğan während einer Rede in Sekundenschlaf

Wie Erdoğan inzwischen regiert, zeigt sich an der wachsenden Repression, der Inhaftierung politischer Gegner, dem Abwracken von Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Es zeigt sich an der Außenpolitik, bei der Ankara USA und Nato mit Waffenkäufen in Russland vor den Kopf stößt, die Bündnispartner mit Alleingängen und Militäraktionen - ob im Irak, in Libyen oder Syrien - provoziert, im Mittelmeer dem eigenen Nato-Partner Griechenland offen mit Waffengewalt droht.

Merkel istallerdings zu einem Zeitpunkt gekommen, in dem Erdoğan angeschlagen wirkt: nicht nur politisch, sondern offenbar auch gesundheitlich. Der 67-Jährige, der das Land seit 2002 als Ministerpräsident und seit 2014 als Staatspräsident regiert, fiel jüngst während einer Rede in Sekundenschlaf. Er musste sich während eines TV-Interviews Antworten einflüstern lassen. Jüngste Versuche seiner Medienberater, den Populisten mit Aktivitäten vor laufender Kamera als kerngesunden Mann zu zeigen, gingen schief. Zuletzt spielte der Präsident Basketball. Die Szene mit dem Wurf auf den Korb hatte eine bizarre Anmutung.

Auslaufmodell statt allmächtiger Staatsmann

Vor allem die lahmende Wirtschaft lässt Erdoğan fast schon als Auslaufmodell und nicht mehr als allmächtigen und allzuständigen Staatsmann erscheinen, als der er fast zwei Jahrzehnte präsentiert worden war. Die Volksnähe, für die der ausgebuffte Redner bekannt war, geht verloren: Der Eindruck ist, dass Erdoğan mit einem winzigen Berater-Zirkel regiert, Widerspruch nicht hören will und den Kontakt zu den Bürgern, aber auch zu seiner Regierungspartei AKP verloren hat.

Zugleich spürt ein guter Teil der gut 80 Millionen Türken täglich, dass es ihnen schlechter geht. Das Land hat sich wirtschaftlich nicht erholt. Die Inflation liegt bei 20 Prozent, die Währung Lira ist immer weniger wert, Importe werden teurer. Hinzu kommt Corona mit den bekannten Folgen für die Volkswirtschaft, die Zahl der täglichen Neuinfektionen liegt bei mehr als 30 000.

In den Medien wird über Studenten berichtet, die wegen des Mangels an Wohnraum in Parks und Wäldern campieren, oder über die zunehmende Zahl von Selbstmorden verarmter Menschen. Gleichzeitig konnte der aus dem Land geflohene Mafia-Boss Sedat Peker über Wochen im Internet ausbreiten, wie sich Mitglieder der politischen Elite bereichern. Pekers Youtube-Show erreichte Einschaltquoten in Millionenhöhe. Gegenbeweise für die schweren Vorwürfe, die von Korruption über Drogenhandel bis zu Vergewaltigung und Mord reichen, lassen auf sich warten.

Der Opposition fehlt nur noch der passende Gegenkandidat

Erdoğans früheres Wundermittel - der ins Größenwahnsinnige zielende Ausbau der Infrastruktur mit Straßen, Brücken, Flughäfen - greift auch nicht mehr. Die Arbeiten an dem vom Präsidenten als "mein verrücktes Projekt" angekündigten "Kanal Istanbul" etwa kommen nicht in Gang. Das ambitionierte Bauvorhaben für einen "zweiten Bosporus" zwischen dem Schwarzen und dem Marmara-Meer ist bisher über eine Art von Grundsteinlegung für eine Brücke nicht hinausgekommen. Und der Kanal stößt wegen der ökologischen Risiken auf massive Kritik von Umweltschützern und Zivilgesellschaft.

Schließlich die Flüchtlingskrise: Die Stimmung dreht sich. Das Land beherbergt 3,7 Millionen Syrer und Hunderttausende andere Araber, Afrikaner und Afghanen. Jetzt, wo sich nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul neue Flüchtlingsbewegungen abzeichnen, reagieren Türken mit Ablehnung auf Migranten, vor allem aus Afghanistan. Sie haben nicht vergessen, dass der lauteste Befürworter einer Politik offener Grenzen für leidende Muslime - seinerzeit die Syrer - eben Erdoğan war.

All dies spiegelt sich in den Meinungsumfragen wider. Man sollte den Demoskopen mit Vorsicht begegnen und Erdoğan nicht vorzeitig abschreiben. Aber den meisten Instituten zufolge ist die AKP unter 30 Prozent gefallen. Erdoğan ist beharrlich, zeigt sich zugleich geschmeidig im Wechsel angeblich eherner Positionen. Doch die Opposition aus CHP, Iyi-Partei und kleineren Parteien gewinnt an Rückhalt gegenüber Erdoğan und seinem semi-faschistischen Partner von der MHP. Der Opposition fehlt nur noch der passende Gegenkandidat.

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