Bei Dao: "Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking":Chinas papierene Wände

July 9 2016 Binzhou Binzhou CHN Binzhou China July 9 2016 EDITORIAL USE ONLY CHINA OUT

Der Dichter Bei Dao war seit dem Tian'anmen-Massaker im Exil in Europa und konnte erst 2006 nach China zurückkehren.

(Foto: imago stock&people/ZUMA Press)

Bei Daos Kindheitserinnerungen sind ein Schlüssel zum Verständnis der Traumata, die die Volksrepublik heute noch prägen.

Von Tilman Spengler

Es ist ein Abend im späten Juli des Sommers 1989. Auf der Münchner Theresienwiese haben sich viele Hundert Demonstranten versammelt, um ein Zeichen gegen die Niederschlagung des Protestes auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni zu setzen. Mit Fackeln bilden sie die zwei chinesischen Zeichen nach, die für das Wort "Menschenrechte" stehen. Als erster Redner tritt ein hagerer, etwa vierzigjähriger Mann mit Parka und Sonnenbrille auf, der ein Gedicht vorträgt. "Infam lautet das Passwort der Infamen ...", lautet die erste Zeile in der deutschen Übersetzung. Kaum ist diese Zeile verklungen, stimmen die chinesischen Zuhörer in den Text ein. Sie kennen ihn auswendig und tragen die ersten vier Strophen vor wie einen Choral.

"Die Antwort" heißt der Titel dieses Gedichtes. In Peking, in Shanghai und in anderen Städten der Volksrepublik war es bis zum Massaker am 4. Juni die bekannteste Hymne der Protestbewegung. Verfasst wurde das Gedicht von jenem Mann, der in München ans Mikrofon getreten war, mit bürgerlichem Namen heißt er Zhao Zhenkai, die Welt kennt ihn als Bei Dao.

Der Lyriker ist knapp zwei Monate älter als die Volksrepublik, deren Beginn am 1. Oktober 1949 proklamiert wurde. Für Chinesen dieser Generation bedeutet das einen lange sehr zweifelhaften, oft bitteren Schatz an Erfahrungen. Denn es zählten dazu politische Kampagnen wie die erste massive Verfolgung von Intellektuellen (1956-1957) unter der zynischen Losung "Lasst hundert Blumen blühen". Hungersnöte wie "Der große Sprung nach vorn", (1958-1962), im Volksmund oft beschönigend "Die Jahre der Not" genannt, die zig Millionen Landsleute ihr Leben kosteten. Oder eben jene Periode der "Zerschlagung des Alten", (1966-1977) die unter dem Namen "Kulturrevolution" in die blutige Geschichte einging.

Bohrender Hunger, Sehnsucht nach elektrischem Licht, Angst vor der Schmach

Diese drei Beispiele seien hier nur erwähnt, weil sie als zeitgeschichtliche Folie den autobiografischen Skizzen des Autors von "Das Stadttor geht auf" einer nicht-chinesischen Leserschaft die notwendige historische Dimension zur Verfügung stellen könnten. Doch dazu mehr später.

Im Vordergrund muss stehen, mit welch künstlerischer Meisterschaft Bei Dao es versteht, mit ganz wenigen und doch so präzisen Strichen aus vermeintlichen Alltagsgeschichten seiner Kindheit und Jugend den Kosmos einer Gesellschaft zu zeichnen, die vornehmlich von Mangel und Angst geprägt wird. Von verlockenden Gerüchen auf der Straße, die im Kind immer wieder den ständig bohrenden Hunger ausbrechen lassen, von der Sehnsucht nach elektrischem Licht, um nach Einbruch der Dunkelheit noch ein Schulbuch lesen zu können. Und von der Angst, durch das Versagen bei Prüfungen in den sozialen Abgrund zu stürzen - oder von der Schmach, als Kind einer "bürgerlichen" Familie stigmatisiert und damit schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt zu werden.

Das Kind, der Jugendliche lernt Anpassung, lernt, strategische Verbindungen zu knüpfen, lernt die Regeln des Rudels. Das ist die eine Welt. Gleichzeitig gibt es aber immer noch die Welt einer weit verzweigten Familie: Sie hat einen Stammbaum, der tief in die kaiserliche, doch auch in die revolutionär republikanische Vergangenheit zurückreicht. Da gibt es immer noch einen, meist mehrere Onkel und Tanten in diesem großen Land, das sind Verbindungen, die verlässlicher sind als die windigen Koalitionen mit politischen Fraktionen. Falls sie denn belastet werden können.

Wenn Bei Dao uns in einen Wohnraum blicken lässt, sind die Wände stets so dünn wie Reispapier. Es weiß jeder das meiste vom Nachbarn. Kann man helfen, darf man helfen, sollte man helfen? Oder doch einfach konstatieren, dass es wieder zu einem Suizid gekommen ist, ein tragischer, doch keineswegs seltener Punkt des Alltags?

Bei Dao: "Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking": Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Hanser, München 2021. 336 Seiten, 24 Euro.

Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Hanser, München 2021. 336 Seiten, 24 Euro.

Bei Dao verschweigt auch nicht, das ist eine der ganz großen Stärken dieses Buches, wie selbst er in der Kulturrevolution zum grausamen Akteur in diesem Geschehen wurde. Ja, auch er hat mitgeschrien, hat seelisch und körperlich die von der "Revolution" angezeigten Übeltäter misshandelt. Ein Kind, ein Jugendlicher seiner Zeit, doch das ist ihm keine Entschuldigung.

Als Dichter hat er schon in den Siebzigerjahren zu einer Sprache gefunden, die die Wirrsal, den Unstern jener Zeit, nein, nicht auf einen Begriff brachte, sondern in wilden Sprachbildern wie Collagen zusammenstellte. Man sprach von der Poesie des Obskuren. Es waren damals Dichterinnen und Dichter, die den Weg in eine neue Wahrnehmung der Welt aufzeigten. Das führte zu den ersten Knospen des demokratischen Frühlings nach dem Ende der Kulturrevolution, was sein blutiges Ende fand bei der Niederschlagung des Aufbegehrens im Juni 1989.

Bei Daos Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis all jener Traumata, die auch die heutige Volksrepublik noch prägen. Das gilt gerade für jene Gemüter im Westen, die jetzt damit beschäftigt sind, lautstark die "gelbe Gefahr" oder den "orientalischen Despotismus" als zentralen Logarithmus für das Verständnis Chinas auszurufen.

Wolfgang Kubin hat dieses Buch mit beeindruckender Empathie für die oft wild zwischen Trauer und Humor wechselnden Tonfälle des Autors ins Deutsche übertragen. Höchst bedauerlich ist nur, dass sein Verlag den oben bereits erwähnten Begriff des Obskuren offenbar so ernst nimmt, dass er ihn auch für diese Erinnerungen des großen Dichters praktiziert. Es fehlt schlicht ein kleiner historischer Apparat. Schon viele chinesische Leser dieser Texte werden nachblättern müssen, wann genau jener Kaiser Kang Xi regierte, wann und warum sich im Jahre 1927 Kommunisten und Nationalisten trennten, worum genau es den Taiping oder worum es den "Boxern" ging. Diese Reihe lässt sich fortsetzen. Gewiss kennen Verleger und Lektoren alle diese Details. Der deutsche Leser darf sich dagegen zu Recht überfordert fühlen. Nicht immer ist Schmalhans ein guter Küchenchef. Besonders dann nicht, wenn es sich um das Werk eines so großen Künstlers handelt.

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