Flüchtlinge in München:"Wir haben keine Zukunft in Sierra Leone"

Lesezeit: 2 min

Bei einer Pressekonferenz erzählen drei Frauen über die Situation in Sierra Leone. (Foto: Catherina Hess)

Seit Tagen demonstrieren Menschen vor der Zentralen Ausländerbehörde. Dort wollen Kontrolleure herausfinden, ob die registrierten Sierra-Leoner auch tatsächlich aus dem Land kommen. Was mit den Überprüften geschieht, ist ungewiss.

Von Thomas Anlauf

Der jungen Frau stehen Tränen in den Augen, als sie spricht. "Vor allem Frauen und Mädchen leben dort gefährlich: Es gibt viel häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen", sagt Fatmata S. "Wir Frauen haben dort keine Stimme, um zu sprechen." Dort, das ist das Land, aus dem die heute 25-Jährige vor fünf Jahren nach Deutschland geflohen ist. Sie und Hunderte Landsleute in München und Bayern befürchten nun, dass sie dorthin wieder abgeschoben werden: nach Sierra Leone.

Seit zehn Tagen demonstrieren Dutzende bis mehrere Hundert Menschen Tag und Nacht auf der Hofmannstraße im Münchner Süden. Seither finden in der Zentralen Ausländerbehörde Anhörungen zur Identitätsklärung durch eine sierra-leonische Botschaftsdelegation statt. Mit diesen Anhörungen wollen die Kontrolleure herausfinden, ob die Menschen, die als Sierra-Leoner in Bayern registriert sind, auch tatsächlich aus dem westafrikanischen Land kommen.

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Nach Angaben des Bayerischen Flüchtlingsrats sollen dazu die Physiognomie, der Dialekt, etwaige Tätowierungen und Kenntnisse über landestypische Traditionen überprüft werden. Für Hamado Dipama vom Münchner Migrationsbeirat seien diese Anhörungen "rassistische Praxen nach willkürlichen Kriterien". Er fordert im Namen des Migrationsbeirats "einen sofortigen Stopp der Sammelanhörungen und für die Betroffenen einen sicheren Aufenthalt und Arbeitsgenehmigungen in Bayern".

Täglich gibt es zwischen 30 und 45 Anhörungstermine in der Behörde

Tatsächlich ist ungewiss, was mit den überprüften Menschen geschieht. Ein Bündnis, dass sich mit den Demonstrierenden in der Hofmannstraße solidarisch erklärt - darunter auch Fridays for Future München, das Mobilitätswendecamp, die Karawane München und die Münchner Linke -, befürchtet, dass viele der Kontrollierten abgeschoben werden könnten. Dagegen appelliert die sierra-leonische Community "an alle zuständigen Behörden, die humanitäre Notlage der Menschen aus Sierra Leone anzuerkennen und von Abschiebungen abzusehen. Bei Rückkehr nach Sierra Leone drohen uns Verfolgung und Bestrafung, Folter und im schlimmsten Fall Mord."

Von Behördenseite zuständig ist das Landesamt für Asyl und Rückführungen (LfAR) in Ingolstadt. Eine Sprecherin des LfAR betont, dass derzeit täglich "zwischen 30 und 45 Termine für eine Anhörung vergeben" würden. Dabei kommt es seit dem Beginn der Prüfungen sogar zu Polizeieinsätzen in Asylunterkünften, um die Menschen zu den Anhörungen zu bringen, wie Katarina Grothe vom Bayerischen Flüchtlingsrat erfahren hat. Die Sprecherin des Landesamts bestätigt das indirekt: "Grundsätzlich besteht eine Mitwirkungspflicht bei der Frage der Identitätsklärung." Gegebenenfalls könne die Verpflichtung auch "zwangsweise, also gegen den Willen der betroffenen Person durchgesetzt werden".

Viele Menschen aus Sierra Leone, die in Bayern leben, sind laut Flüchtlingsrat in der Region Landshut, aber auch in Passau und Deggendorf untergebracht. Nach Angaben des Statistischen Amts lebten Ende 2020 insgesamt 545 Menschen in München, die aus Sierra Leone stammen.

Viele Münchner Politiker unterstützen den Protest

Einer von ihnen ist Victor Kamara. Er sitzt am Mittwochnachmittag bei einer Pressekonferenz des Protestcamps auf einer Bierbank an der Hofmannstraße und deutet in die Runde der Demonstrierenden: "Schaut euch um, hier stehen lauter junge Menschen, die wollen hier arbeiten." Viele hätten längst Arbeit in München oder anderen Städten Bayerns, einige hätten Familien mit Kindern. "Und jetzt versucht man, sie von ihren Kindern zu trennen. Aber wir haben keine Zukunft in Sierra Leone." Und Fatmata S. fordert die Regierung in Deutschland auf: "Ich will, dass Menschen aus Sierra Leone geschützt und die Abschiebungen gestoppt werden."

Zumindest viele Münchner Politiker unterstützen den Protest der Menschen. In den vergangenen Tagen seien Vertreter verschiedener Parteien in das provisorische Camp auf dem Gehweg gekommen. Am Mittwoch beantragte die Stadtratsfraktion der Linken, dass sich Oberbürgermeister Dieter Reiter auf Bundes- und Landesebene dafür einsetzen soll, mögliche Abschiebungen der Menschen und auch die Anhörungen zu stoppen.

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