FC St. Pauli-Trainer Timo Schultz:Ostfriese mit Schnellzugfußball

16.10.2021, xemx, Fussball 2.Bundesliga, 1.FC Heidenheim - FC St.Pauli emspor, v.l. Cheftrainer Timo Schultz (FC St. Pa

Einer, der weiß, wie der Kiez tickt: St.-Pauli-Chefcoach Timo Schultz.

(Foto: Eduard Martin/Jan Huebner/Imago)

Im Pokal weiter, in der Liga Erster: Unter Coach Schultz ist St. Pauli mit attraktivem Fußball das erfolgreichste Zweitliga-Team des Kalenderjahres. Das Undenkbare scheint möglich: Erstmals vor dem HSV landen.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Ein Tag im Sommer, ungefähr zu der Stunde, wenn die Nacht die Sonne verdrängt. Zu der Zeit kehrt erst richtig Leben ein auf St. Pauli, jenem Hamburger Stadtteil, der vielleicht wie kein anderer in Deutschland von einem Fußballklub geprägt wird. Überall Wimpel, Fahnen, weiße Totenköpfe auf schwarzem Grund. Der FC St. Pauli bestimmt den Alltag, den Rhythmus, die Stimmung im Viertel - auch bei der Person, die an diesem Sommerabend in einem Restaurant auf dem Kiez sitzt. Der Name ist an dieser Stelle unwichtig, nur so viel: Die Person kennt den Klub von innen. Und sie hat eine kleine Ankündigung zu machen: "Dieses Jahr", sagt der Kiezkenner, "ist das Jahr, in dem wir am HSV vorbeiziehen."

Nur ein kleiner Spaß, eine kühn ausformulierte Schnapsidee? Es vergehen eine, zwei, drei Sekunden. Aber kein Abwinken, kein Rückzieher. Stattdessen: ein selbstsicherer Blick. Die Mundwinkel heben sich zu einem triumphierenden Grinsen.

An einem grauen Oktobertag, die Hamburger würden die meteorologische Lage "Schietwetter" nennen, sitzt der St.-Pauli-Trainer Timo Schultz in einer Loge im Millerntor-Stadion und hört sich die Geschichte an. Wie er, Schultz, die stadtinternen Kräfteverhältnisse gerade so einschätzt? "Ich halte mich nicht permanent damit auf, mich mit dem HSV zu vergleichen", sagt er, "damit komme ich weder vorwärts noch rückwärts." Wieder vergehen die Sekunden. Schultz hält den Blick, seine Mimik lässt keine weiteren Interpretationen zu: Er sieht das genauso nüchtern, wie es klingt.

Seit Wochen steht St. Pauli an der Tabellenspitze, sieben Punkte vor dem HSV

Aber natürlich hat Schultz mitbekommen, was in der Sportstadt Hamburg gerade rauf und runter diskutiert wird, in den Medien, in der S-Bahn, vor Dönerbuden. Dieses Jahr könnte es wirklich passieren: St. Pauli vor dem Hamburger SV, Underdog vor Establishment, zum ersten Mal in der Geschichte dieser beiden so unterschiedlichen Vereine. Der Kiezklub steht in der zweiten Liga seit Wochen an der Tabellenspitze, sieben Punkte vor dem HSV, aber auch vor dem FC Schalke oder Werder Bremen, dem Gegner an diesem Samstag (13.30 Uhr). Nur eine Momentaufnahme? Klar, das wäre jetzt der logische Reflex. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Paulianer schon das ganze Kalenderjahr über die dominante Kraft im Unterhaus sind, kein Team hat in dieser Zeit mehr Punkte geholt, kein Team spielt attraktiveren Fußball.

An dieser Stelle ein kleiner Warnhinweis: In den folgenden Zeilen wird ein bisschen Folklore nicht zu vermeiden sein, was aber nun mal am Objekt der Betrachtung liegt. St. Pauli ist ein besonderer Fußballklub, der von Leidenschaft und einem charmanten Wertegerüst getragen wird. Was diesen Verein und seine Erfolgsserie ausmacht, das lässt sich an niemandem besser erklären als an Timo Schultz, seit etwas mehr als einem Jahr der oberste Glückseligkeitsbeauftragte auf dem Kiez. Er selbst drückt es so aus: "Wenn wir mit den gleichen Waffen kämpfen wie unsere Konkurrenten, dann haben wir keine Chance." Und: "Wir müssen uns Sachen raussuchen, die wir auf unsere eigene Weise machen, die wir also zwangsläufig besser machen als die anderen."

Schultz, 44, gebürtiger Ostfriese, kam im Jahr 2005 nach St. Pauli, als Mittelfeldabräumer mit eher mittelprächtiger Fußballer-Vita: Werder Bremen II, VfB Lübeck, Harburger TB, Holstein Kiel. Der FC St. Pauli war zu dieser Zeit eine Ansammlung von engagierten Rumpelfußballern, nichts war mehr übrig vom "Weltpokalsiegerbesieger"-Team, das vier Jahre zuvor noch in der Bundesliga spielte und den FC Bayern schlug. Der Klub war gerade in die Drittklassigkeit abgetaucht und stand kurz vor der Pleite. Jedoch: Das Viertel stand zusammen, die Anhänger sammelten Spenden ein, darunter Prominente wie Bela B von den Ärzten.

Das "Bokalwunder" ist Teil der Legende des Vereins. Schultz verinnerlicht damals den Glauben an die Bolzplatz-Mentalität

Es wurden aber dringend weitere Einnahmen benötigt - und die sollte ausgerechnet dieser Haufen aus "Gescheiterten und Halbtalentierten" beibringen, wie Schultz die damalige Mannschaft nennt. St. Pauli schaltete im DFB-Pokal ein höherklassiges Team nach dem anderen aus, alle mit einem "B" am Anfang: Burghausen, Bochum, Berlin, Bremen. Das "Bokalwunder" ist Teil der Legendenbildung auf St. Pauli. Die Prämien sicherten das Fortbestehen des Klubs. Erst im Halbfinale scheitern sie - an den Bayern. Für Schultz war es eine Zeit der Erkenntnis: Fußball funktioniert am besten, wenn man sich mit "einer brutalen Ehrlichkeit" begegnet. Nur so, glaubt er, lässt sich eine Gruppe formen, die über das aufrichtige Wir-Gefühl einer Bolzplatztruppe verfügt. Und wenn man dafür unangenehme Dinge aussprechen muss, dann spricht man sie eben aus.

Schultz weiß natürlich, dass auch der FC St. Pauli nicht frei von Widersprüchen ist. Zu den Idealen des Klubs gehören Antirassismus, Antisexismus und Antifaschismus, was vielerorts aber auch ein bisschen belächelt wird, weil dagegen wohl nur überzeugte Rassisten, Sexisten und Faschisten etwas einzuwenden haben. Bei St. Pauli vermischt sich linkes Rebellentum mit den kapitalistischen Notwendigkeiten der Branche, wie auch auch auf einer großen Werbebande zu sehen ist, die in der Geschäftsstelle am Millerntor hängt. "Kiezhelden-Ermöglicher" steht auf ihr geschrieben - darüber prangt unter anderem das Logo eines Wettanbieters.

"4-4-2-Verschiebebahnhof" funktioniert nicht auf St. Pauli, sagt Schultz. Er lässt Schnellzug-Fußball spielen

Damit wird ganz gut veranschaulicht, was den Trainerjob auf St. Pauli ausmacht: Es gilt einen permanenten Ausnahmezustand und eine hohe moralische Erwartungshaltung zu moderieren - und nebenbei, auch nicht ganz unwichtig, das eine oder andere Tor zu schießen. Schultz gelingt dieser Spagat, er ist inzwischen Paulianer durch und durch. Nach seiner Spielerkarriere wurde er erst Co-Trainer des Profiteams, danach trainierte er die U17, die U19 und die zweite Mannschaft. Vor der vergangenen Saison stieg er zum Chefcoach auf.

Schultz hat inhaliert, was den Verein ausmacht. Ein "flaches 4-4-2-Verschiebebahnhof" funktioniere nun mal nicht auf St. Pauli, sagt er, weshalb er einen kompromisslosen Schnellzug-Fußball spielen lässt. Ihm gehe es weniger um die taktische Ausrichtung als darum, wie jeder im Kader seine Rolle interpretiert, sagt Schultz. Es gibt Beobachter, die finden, dass in der zweiten Liga lange keine Mannschaft mehr so einen Fußball gespielt hat, so klar, stringent und intensiv. Mit dem häufigen Kampf-und-Krampf-Kick im Unterhaus hat das schon lange nichts mehr tun. "Pessimismus", sagt Schultz, "passt nicht nach St. Pauli."

FC St. Pauli v FC Hansa Rostock - Second Bundesliga

Zwei Königstransfer: Kreativspieler Daniel-Kofi Kyereh und Stürmer Guido Burgstaller (vorne).

(Foto: Martin Rose/Getty Images)

Das liegt auch an der schlüssigen Komposition des Kaders, für die Sportdirektor Andreas Bornemann hauptverantwortlich ist. Seine beiden Königstransfers: Daniel-Kofi Kyereh, der vom SV Wehen Wiesbaden kam, ist die schöpferische Kraft im Mittelfeld; und Mittelstürmer Guido Burgstaller, der auf Schalke für untauglich befunden worden war. Beide kamen ablösefrei, beide gehören in der zweiten Liga jetzt zu den führenden Akteuren auf ihren Positionen.

Bornemann lässt sich nicht von Strömungen leiten, er möchte eine lange Linie zeichnen. Auch deshalb, man hat diese Episode längst vergessen auf dem Kiez, hielt er an Schultz fast, als es in der Hinrunde der vergangenen Saison so gar nicht lief: Bis zur Winterpause war St. Pauli wie ein betrunkener Seeräuber durch die Liga getaumelt, es waren die ersten Monate von Schultz als Chefcoach. "Wir haben dann klar analysiert, was wir anders machen müssen", sagt Schultz. "Und wir haben festgestellt: So viel fehlte da gar nicht." In der Tat, viel fehlte nicht, und jetzt sind sie womöglich dabei, eine Geschichte zu schreiben, an die nicht einmal Utopisten geglaubt hätten. Und davon gibt es viele auf St. Pauli.

Schultz, so viel Ostfriese steckt noch in ihm, ist Realo geblieben. Als er den Cheftrainer-Posten antrat, sagt er, sei ihm eines klar gewesen: Seine Zeit bei St. Pauli hatte jetzt ein Verfallsdatum. Andererseits: Bisher ist ja auch noch keiner vor dem HSV gelandet.

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