Street-Art:"So wie es ist, kann es nicht weitergehen"

MÜNCHEN: Graffiti gegen Bombadierung von Zivilisten - Werksviertel Mitte

Lion Fleischmann wurde auf das Kunstprojekt aufmerksam, weil eine frühere Arbeit von ihm übermalt werden sollte. Als er hörte, um was es ging, machte er sofort mit.

(Foto: Johannes Simon)

Die Botschaft hinter seiner Kunst war Lion Fleischmann früher egal. Jetzt setzt er sie immer häufiger gegen gesellschaftliche Missstände ein. Woher kommt der Wandel?

Von Lea Mohr, München

Früher hatten seine Bilder nur eine Aufgabe: "geil aussehen", sagt Lion Fleischmann, 33. Lange zeichnete er botschaftsarme Comicfiguren, lehnte es ab, seiner Kunst eine tiefere Bedeutung zuzusprechen. Er arbeitete unter der Prämisse, sinnlose Kunst als "Gegenbewegung" zu schaffen, wie er sagt. Heute ist das nicht mehr so. Comicfiguren zeichnet er immer noch. Nur botschaftsarm, das sind sie nicht mehr. Der von Fleischmann selbst genannte "Blödsinn" ist seinem Willen gewichen, gesellschaftlich etwas beizutragen. Seit Anfang Oktober kann man sich davon an einer Hauswand im Werksviertel überzeugen. Zusammen mit seinen Kollegen Melander Holzapfel, der sich als Künstler LANDO nennt, und Werner Walossek, bekannt als Scout, hat Fleischmann am Werk 9 ein Mural gesprüht, das die Kampagne "Stop Bombing Civilians" der gemeinnützigen Organisation Handicap International unterstützt. Aber warum der Wandel?

Unter dem linken Ellbogen ist ein schwarzer Farbklecks tätowiert, das Markenzeichen von Lion Fleischmann

Wenn der in Großhadern aufgewachsene Künstler erzählt, bewegt sich sein ganzer Körper. Im Gespräch zieht er sich wiederholt seine rote Wollmütze vom Kopf. Geht sich mit den Händen durch die Salz-Pfeffer-Haare. Pfriemelt an seinen New-Balance-Schuhen herum. Unter seinem linken Ellbogen ist ein schwarzer Farbklecks tätowiert, sein Markenzeichen. Er ist das erste, was man sieht, wenn man seine Website oder seinen Instagram-Account besucht. Bunte Kunst aus Sprühflaschen, das passt zu Fleischmann. Als Graffiti-Künstler würde sich der 33-Jährige trotzdem nicht bezeichnen: "Das sind für mich die Leute, die illegal rausgehen. Das hat was Politisches und Punkiges. Bei mir hat alles mit Comics angefangen." Zeichentrickfiguren wie Tim und Struppi, Lucky Luke oder Asterix und Obelix könne er bis heute noch viel abgewinnen. Umso intensiver wirkt der Kontrast zu Fleischmanns letztem Projekt, das so gar nichts mit bunten Kinder-Comics zu tun hat.

Im Hintergrund des Wandbildes sieht man eine Wolkendecke, durch die Militärflugzeuge kommen. Ein bombardiertes Haus. Alles schwarz-weiß. Im Vordergrund steht eine Familie, bei der die Mutter das Zentrum bildet. Sie trägt ein Kopftuch, schaut, so wirkt es, mutig nach vorne. Ihre Hand ist ausgestreckt und signalisiert: Stop! Es ist die Geste, für die die Kampagne "Stop Bombing Civilians" bekannt ist.

In Zusammenarbeit mit dem Verein zur Förderung urbaner Kunst ruft Handicap International mit dieser Aktion die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, endlich aktiv zu werden. Immerhin sind 90 Prozent der Opfer von Bombenangriffen weiterhin Zivilisten und Zivilistinnen. Menschen, die die Kriege, die sie und ihre Familien bedrohen, nicht wollen. Deren Leben im Bruchteil einer Sekunde zerstört sind. Diese Ungerechtigkeit hat den Street-Art-Künstler dazu angetrieben, sich bei diesem Projekt zu engagieren. Aber auch die Eskalation in Afghanistan: "Mich hat die Afghanistan-Situation ernsthaft betroffen gemacht. Es ist eine riesige Katastrophe. Das hat mich persönlich tagelang beschäftigt. Ich wollte irgendwie helfen. Deshalb war meine erste Reaktion, als ich gehört habe, dass sie sich gegen die Bombardierung von Zivilisten einsetzen, dass ich unbedingt mitmachen will."

Der Kontakt mit Handicap International kam über seine Künstler-Kollegen Holzapfel und Walossek zustande, die ihn zunächst nur fragten, ob sie eines seiner Bilder auf der Wand am Werk 9 übermalen dürften. "Ich habe dann gefragt, was denn drüber soll. Und dann fand ich das Projekt so toll, dass ich gesagt habe, dass ich gerne mitmachen will." Den Impuls, die Mutter ins Zentrum zu rücken, kam dabei von ihm.

"Man macht das, was einem am Herzen liegt, was einen beschäftigt."

Die Rolle der Frau zu stärken, scheint ein Anliegen von Lion Fleischmann zu sein. Im vergangenen Jahr gestaltete er in Georgien eine Hauswand über 14 Stockwerke, die zum "Empowerment" der Mädchen und Frauen vor Ort führen sollte. Die Wand dort ziert ein kleines Mädchen in Siegerpose und mit Steinschleuder in der Hand. Sie steht auf einem von ihr gebändigten Drachen. "David gegen Goliath", kommentiert Lion Fleischmann das Bild, "das ist mein Thema." Sein damaliger Auftraggeber wollte ein Zeichen gegen den Corona bedingten Anstieg der häuslichen Gewalt in Georgien setzen. Ein Projekt, das Fleischmann "als richtiges Lifegoal" bezeichnet. Am Ende des Tages würden ihm diese Art der Arbeiten "ein anderes Level der Zufriedenheit" geben. Das zeigt, wie sehr er sich in den vergangenen Jahren entwickelt habe. "Früher habe ich immer gesagt: Nein, in meiner Arbeit gibt es keinen tieferen Sinn. Ich mache nur das, was geil aussieht. Fast schon als Gegenbewegung zu diesem ganzen Abstrakten. Nun bin ich älter und reflektierter geworden und weiß, dass das nicht stimmt. Man macht das, was einem am Herzen liegt, was einen beschäftigt."

Früher, damit meint Fleischmann seine Zeit als Zwanzigjähriger, denn das politische Bewusstsein war lange Zeit nicht vorhanden. "Mit Ende 20 kam das erst, dass ich mich gefragt habe, was kann ich für die Gesellschaft leisten. Erst dann habe ich gedacht: So wie es ist, kann es nicht weitergehen."

"Je kaputter der Raum wird, desto mehr industrielle Geräusche werde ich einspielen."

Ein Spätzünder also, aber immerhin wird Fleischmann direkt aktiv. Auch seine aktuelle Arbeit bezeugt sein Bewusstsein für die Belange dieser Welt. Im Kunstlabor 2 hat er einen Raum entworfen, der sich dem Lebens-Raum von Insekten widmet. Der Boden ist mit Kunstrasen ausgelegt. Die Wände sind grün besprüht. Man sieht Gräser, auf denen Insekten mit frechen Gesichtsausdrücken sitzen. Im Hintergrund hört man Insektengeräusche. "Das Konzept ist, dass der Lebensraum vom Menschen kaputt konsumiert wird. Die Leute, die hier reinkommen, dürfen sich die einzelnen Insekten kaufen, die ich dann aus der Wand klopfe. Durch den Konsum der Menschen wird der Raum dann stetig zerstört. Je kaputter der Raum wird, desto mehr industrielle Geräusche werde ich einspielen. Die Grillen hören auf zu zirpen. Und die Bienen hören auf zu summen."

Kommt sein künstlerischer Anspruch zur Vollendung, wenn er seine Kunst mit solchen Statements oder einem politischen Engagement verbindet? Lion Fleischmann überlegt kurz. "Ja, schon", sagt er. "Nur das Wort Vollendung finde ich schwierig. Das klingt so nach Ende. Das Ideal ist nie zu erreichen, sondern nur anzustreben. Ich kann noch mehr machen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: