Russland:Todesursache Misstrauen

Russland: Leere auf dem Roten Platz: In Moskau ist das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gekommen.

Leere auf dem Roten Platz: In Moskau ist das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen gekommen.

(Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP)

Selbst Präsident Wladimir Putin hat sich nicht öffentlich impfen lassen - warum sich das Coronavirus in seinem Reich so rasant verbreiten kann.

Von Silke Bigalke, Moskau

Die vierte Infektionswelle trifft Russland besonders hart, doch die Russen scheinen merkwürdig unbekümmert zu sein. Sie hätten keine Angst davor, sich anzustecken, sagte im Oktober noch die Hälfte der Befragten dem unabhängigen Lewada-Zentrum. Angesichts der Lage ist das kaum zu erklären, die offiziellen Zahlen in Russland liegen seit vier Wochen bei täglich etwa tausend Covid-Toten oder mehr. Unabhängige Experten gehen davon aus, dass die Zahl der tatsächlichen Todesopfer noch bis zu dreimal höher sein könnte.

Krankenhäuser klagen nun wieder über Überlastung, und mehrere Regionen warnen davor, dass ihnen der Sauerstoff ausgeht. Vor allem an abgelegenen Orten kann er offenbar nicht schnell genug nachgeliefert werden. "Bei uns wird Sauerstoff in Gold aufgewogen - jeden Tag rechnen wir nach Litern: Welcher Stadt und welchem Bezirk man wie viel gibt", sagte der Chef der russischen Republik Komi, Wladimir Uiba, während einer Krisensitzung. Der Sauerstoffverbrauch sei innerhalb von zwei, drei Monaten um ein Vielfaches gestiegen. In der kaukasischen Region Kabardino-Balkarien seien die Infektionskrankenhäuser zu 90 Prozent belegt, sagte dort Regionschef Kasbek Kokow. "Jede Minute berechnen wir jedes Kilogramm Sauerstoff."

Das Militär ist eingesprungen, hat fast 350 Tonnen flüssigen Sauerstoff in 27 Regionen geliefert, teilte das Verteidigungsministerium vergangene Woche mit. Mitte Oktober erklärte das staatliche Raumfahrtunternehmen Roskosmos, es werde Raketentests verschieben, um den dafür notwendigen Sauerstoff zu spenden. Auch Unternehmen der Metallindustrie sollen Sauerstoff an Kliniken abgeben.

Der Kreml versucht derweil, die Ansteckungszahlen zu senken, indem er allen Russen in dieser Woche arbeitsfrei verschrieben hat. Experten bezweifeln jedoch, dass das ausreicht. Mit Nowgorod hat die erste Region den Zwangsurlaub bereits um eine weitere Woche verlängert. Und in Moskau begann die arbeitsfreie Zeit aufgrund der angespannte Lage bereits einige Tage früher. Alle Geschäfte, die keine Lebensmittel verkaufen, Schulen, Kindergärten, Restaurants und Cafés bleiben geschlossen. In Theatern und Museen müssen Besucher einen QR-Code vorzeigen, der belegen soll, dass sie geimpft oder getestet sind.

Selbst Geldgeschenke treiben die Impfquote nicht hoch

Landesweit ist erst ein Drittel der Bevölkerung vollständig geimpft - und zwar nicht, weil es an Vakzin mangeln würde. Etwa die Hälfte der Russen möchte sich nicht impfen lassen. Ihnen fehlt das Vertrauen in die Behörden und in das staatliche Vakzin Sputnik V. Selbst Geldgeschenke an Senioren, 120 Euro nach der zweiten Dosis, konnten die Quote bisher kaum erhöhen. So tief sitzt die Skepsis, die der Kreml selbst genährt hat.

Der Kreml hat Sputnik V zwar stets als ein überlegenes Vakzin dargestellt. Trotzdem hat sich kaum ein Politiker, auch nicht Wladimir Putin, öffentlich damit impfen lassen. Gleichzeitig hat Moskau westliche Vakzine schlechtgeredet, teilweise sogar als gefährlich dargestellt, was das allgemeine Vertrauen in eine Impfung sicher nicht erhöht hat. Dazu kommt, dass die russischen Behörden den Ernst der Lage immer wieder heruntergespielt haben, wenn es opportun war. Präsident Putin ist ohne Maske bei Massenveranstaltungen aufgetreten, Statistiken aus vielen Regionen wurden geschönt. Viele Russen wissen nicht mehr, was sie noch glauben sollen. An die Covid-Maßnahmen in ihrem Land glauben sie jedenfalls nicht.

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