Tanzausstellung:Ringelreigen der Kulturen

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Die Ausstellung "Global Groove" in Essen entfaltet 120 Jahre Tanz- und Kunstgeschichte.

Von Dorion Weickmann

Der Mann hockt im Schneidersitz auf einem Quader, skeptisch schaut er in die Kamera. Dahinter steht ein junger Fotograf namens Irving Penn, der die Schönen, Reichen und Berühmten in sein New Yorker Studio holt, um sie für die Vogue zu porträtieren. Für die Aufnahmen hat Penn ein ebenso einfaches wie geniales Setting ersonnen: eine schmale Ecke, auf die jedes seiner Modelle mit einer körpersprachlichen Inszenierung reagiert. Der Mann auf dem Quader heißt Isamu Noguchi, ist Amerikaner mit japanischen Wurzeln, von Beruf Bildhauer und Bühnenbildner der Choreografin Martha Graham. Hoch erhobenen Hauptes posiert er 1947 für Penn, doch seinen Körper hat er mit minimalistischer Anmut zusammengefaltet. Ganz anders Graham, die Penn ein Jahr später zum Shooting bittet: Die Pionierin des Modern Dance fährt Ellbogen und Knie aus, bis sie die Wände der Ecke touchiert - maximale Raumverdrängung, maximales Selbst- und Sendungsbewusstsein einer Tochter aus gutem Haus. In der Ausstellung "Global Groove" im Museum Folkwang in Essen hängen die beiden Fotografien nun direkt nebeneinander und dokumentieren, worum es geht: um interkulturellen Austausch und transkontinentale Brückenschläge, die das Gesicht des Tanzes seit dem Fin de Siècle verändert haben.

Zeichnungen, Fotografien, Artefakte aus der Jahrhundertwende - der Schauwert ist betörend

Warum das Thema gerade jetzt aufpoppt, ist klar. Der Tanz ist das Metier, das die ganze Palette von kultureller Aneignung über Wissenstransfer bis hin zur Hybridisierung der Kunst seit weit mehr als hundert Jahren praktiziert. Vier Kuratorinnen haben eine Fülle an Bildern, Archivmaterialien, Filmen und Objekten zusammengetragen, um moderne Mixturen aus "Kunst, Tanz, Performance und Protest" - so der Untertitel der Schau - zu illustrieren. Die Zeitachse liefert das Grundgerüst, wobei die etwas unübersichtliche Ausstellungsarchitektur zum Kapitel-Hopping verführt. Für Orientierung sorgt noch im Nachhinein das hervorragende Kataloghandbuch, das den Stoff verdichtet und historische Prozesse eindrucksvoll profiliert.

Der Schauwert von "Global Groove" ist schlicht betörend. Gleich durch den ersten der vier Ausstellungssäle zieht sich eine vierzig Meter lange, glitzernde Wellenwand: "Foreverago" heißt diese Installation von Pae White - ein vertikaler Kimono-Quilt, der historische Kostüme und fortschrittliche Technik, Ost und West miteinander verknüpft. Genauso verhält es sich mit den Artefakten ringsum, die allesamt aus der Jahrhundertwende stammen. Da leuchten Loïe Fullers schwungvolle Serpentinentänze aus einem japanischen Environment, Pablo Picasso hat die Tänzerin Sada Yakko auf Papier gestrichelt, Auguste Rodin die Aktricen des kambodschanischen Hofballetts bei ihrem Frankreichdebüt skizziert. Wenig später modelliert er den Kopf von Hisa Ōta alias Madame Hanako, deren theatralische Selbstmordszenen ganz Europa faszinieren. Auf der anderen Seite des Atlantiks huldigt Ruth St. Denis dem Orientalismus, stilecht vom Kopfputz bis zur Glöckchenkette am Fußgelenk.

Die exotische Grazie, so zeigt dieser Auftakt, ist von unwiderstehlichem Reiz. Sie wird in der Alten Welt zunächst vor allem medial transformiert, also in Zeichnungen, Skulpturen oder Fotografien überführt. Mit dem Ausdruckstanz setzt die Phase der Aneignung ein: Asiatische Künstler wie der javanische Tänzer Raden Mas Jodjana bereisen Europa, geben ihre Kunst und ihr Wissen weiter. Mary Wigman gehört zu Jodjanas Schülerinnen und entwickelt sich - Stichwort "Hexentanz" - zur Meisterin einer Überblendungstechnik, die Einflüsse aus Fernost mit expressiven Impulsen kreuzt. Wigmans Schüler Harald Kreutzberg wiederum wird in den Dreißigerjahren zum Geburtshelfer des japanischen Butoh, jenes "Tanzes der Finsternis", der im Nachkriegs-Nippon gegen althergebrachte Stile und Strukturen antritt. In der Gegenrichtung etabliert der Inder Uday Shankar in England eine Art frühes Bollywood - so schließt sich allmählich ein erdumspannender Tanzkreislauf.

Der Austausch mit Malerei, Design und Mode mündet in eine vibrierende Avantgarde

Die Vorreiterrolle des Tanzes setzt sich beim Gang durch "Global Groove" mosaikartig zusammen. Die wechselseitige Beeinflussung der Tanzkulturen, der Austausch mit Malerei, Design und Mode - all das mündet in eine vibrierende Avantgarde. Dabei erweist sich die Körperkunst als ungemein wandelbar und dynamisch: Ihre Metamorphose ist kein Durchgangsphänomen, sondern ein Dauerzustand. Fortschrittsschübe sind stets mit gesellschaftlichen Umwälzungen verknüpft - ein Aspekt, den die Ausstellung eher diffus beleuchtet.

Dabei geraten Choreografen wie der Wegbereiter der Postmoderne, Merce Cunningham, oder die Tanztheater-Ikone Pina Bausch doch niemals zufällig ins Rampenlicht. Cunninghams Aufstieg spielt sich vor dem Hintergrund eines turbulenten Jahrzehnts ab, das für die USA mit der Kubakrise beginnt und mit dem Vietnam-Debakel noch lange nicht endet. Pina Bausch tritt - via Folkwang-Schule - das Erbe des Ausdruckstanzes an und steht zugleich für Emanzipation und Experiment. Diese Linien bleiben in "Global Groove" blässlich, und so verstreicht die Chance, den Tanz mit Nachdruck in die Gesellschaftsgeschichte hineinzuschreiben. Gleiches gilt für aktuelle Aspekte, etwa den K-Pop. Ein Produkt wie der 2020 von BTS gedrehte "Black Swan"-Clip hätte hierhergehört, weil er den "Schwanensee" zeitgenössisch entstaubt und zurückexportiert in den Westen: Drehort war ein Art-déco-Theater in L.A.

Dennoch imponiert "Global Groove" als ästhetische Befragung einer Vergangenheit, die nicht so fern ist und trotzdem weit entrückt erscheint. Das Widerspenstige und Widerständige fließt heute munter im Mainstream mit, die Bedeutung kollaborativer Ansätze wird niemand mehr bestreiten. Martha Graham und Isamu Noguchi stehen stellvertretend für zahlreiche Partnerschaften, die den Tanz nach vorne dachten und in die Zukunft bewegten. Irving Penn hat übrigens auch Merce Cunningham fotografiert und war mit einer Wigman-Schülerin verheiratet. Am Ende ist eben auch der "Global Groove" eine erstaunlich familiäre Veranstaltung.

"Global Groove" im Museum Folkwang, Essen, bis 14. November; der Katalog ist bei Hirmer erschienen.

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