Kommentar:Schluss mit den Halbwahrheiten

Kommentar: Zeichnung: Bernd Schifferdecker

Zeichnung: Bernd Schifferdecker

Bis jetzt hat es Boris Johnson ganz gut verstanden, die Kosten des Brexit zu verstecken. Doch damit ist es nun vorbei. Der EU-Austritt trifft die britische Wirtschaft härter als die Corona-Pandemie.

Von Alexander Mühlauer, London

Bislang ist es Boris Johnson ziemlich gut gelungen, die Kosten des Brexit zu kaschieren. Unter dem Deckmantel der Corona-Pandemie ließen sich die Folgen des EU-Austritts relativ einfach verstecken. Konnte ja niemand genau sagen, welchen Anteil das Eine oder das Andere am jüngsten Wirtschaftsabsturz hatte. Das war dem britischen Premier ganz recht. Doch damit ist es nun vorbei. Seit erstmals eine unabhängige Behörde im Vereinigten Königreich einen klaren Vergleich gezogen hat, fällt es selbst Johnsons Regierung schwer, zu leugnen, was auch im Alltag immer deutlicher wird: Der Brexit trifft die britische Wirtschaft sehr viel härter als die Pandemie.

Wer es genau wissen will, kann den Bericht des Office for Budget Responsibility nachlesen, das Ergebnis der Untersuchung ist jedenfalls unverkennbar. Wegen der Pandemie soll die britische Wirtschaftsleistung langfristig um zwei Prozent einbrechen. Im gleichen Zeitraum soll der Brexit das Bruttoinlandsprodukt um vier Prozent schmälern - also doppelt so stark. Natürlich gibt es allerlei Ungewissheiten, aber das Fazit der Ökonomen ist eindeutig.

Seit Johnson vor fast einem Jahr das Handelsabkommen mit der EU unterschrieben und den Brexit damit besiegelt hat, zeichnet sich immer klarer ab, wie sehr die britische Wirtschaft darunter leidet. Der Plan der Regierung geht jedenfalls nicht auf. Nachdem im Juli so gut wie alle Corona-Beschränkungen gefallen waren, sollte sich die Wirtschaft wieder voll entfalten können. Doch daraus wurde nichts. In den Monaten nach dem Freedom Day zeigte sich, dass das Wachstum weitaus geringer ausfällt als von der Regierung prognostiziert. Vor allem die britischen Exporte in die EU sind - im Vergleich zu den Ausfuhren in andere Teile der Welt - nach wie vor auf einem ziemlich niedrigen Niveau.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist dramatisch, überall fehlen Leute

Der Grund liegt auf der Hand, auch wenn Johnson und seine Ministerriege immer noch behaupten, dass der Brexit damit nichts tun habe. Ganz einfach deshalb, weil nicht schuld sein kann, was nicht schuld sein darf. Noch immer ist da eine Regierung in London, die Augen und Ohren verschließt, auch wenn die Unternehmen noch so deutlich sagen, dass sie mit den Folgen des Brexit nicht klarkommen.

Besonders dramatisch ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Etwa 200 000 EU-Bürger verließen allein im vergangenen Jahr das Vereinigte Königreich. Nun fehlen sie, besonders jene, die Jobs erledigt hatten, für die sich viele Briten zu schade sind. Zum Beispiel Schweine schlachten. Weil es in Großbritannien nicht mehr genügend Metzger gibt, werden geschlachtete Tiere nun in die EU exportiert, um sie dort verarbeiten und verpacken zu lassen. Danach kommt das Fleisch wieder zurück ins Vereinigte Königreich.

Die Regierung in London reagierte auf ihre Weise: Erst als sie keinen Ausweg mehr sah, lobte sie Arbeitsvisa aus. Im Fall der Metzger 800 an der Zahl, allerdings auf sechs Monate befristet. Es ist wie bei den Visa für Lkw-Fahrer, die im Vereinigten Königreich dringend gesucht werden: Ausländer sollen den Briten das Weihnachtsfest sichern, sie sollen ihnen Geschenke und Zutaten für das Christmas Dinner liefern - ist die Arbeit getan, müssen sie wieder verschwinden.

Diese Arbeitsmarktpolitik mag bei kurzfristigen Engpässen helfen, aber sie bietet den Unternehmen nicht das, was sie wirklich brauchen: Planungssicherheit. Klar, die Zeit, in der britische Firmen im EU-Binnenmarkt so viele billige Arbeitskräfte aus Osteuropa anheuern konnten, wie sie wollten, ist vorbei. Aber die Vorstellung der Regierung, dass nun Einheimische diese Jobs übernehmen werden, wenn die Firmen ihnen nur höhere Löhne zahlen, ist keine langfristige Strategie. Eine Folge der zahlreichen Engpässe ist schon jetzt absehbar: Die Preise für Lebensmittel steigen.

Werden Johnson und seine Minister auf diese und andere Brexit-Folgen angesprochen, behaupten sie stets, dies sei alles ein globales Problem, kein speziell britisches. Und wenn das jemand bestreitet, machen sie mitunter die Zollkontrollen der Franzosen oder gleich "die EU" dafür verantwortlich. Johnson wird dieses Blame Game weiter spielen. Für ihn gibt es nur ein Kriterium: Seine Wählerinnen und Wähler müssen ihm seine Halbwahrheiten abnehmen. Die Frage ist also, wie lange sie Johnsons Ausreden noch Glauben schenken.

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