Kritik:Hypnotisch

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Eine stille, hochkonzentrierte Aktion, die sich allmählich ins Spektakuläre weitet: die Choreografie "Parotia" von Léonard Engel, die im Schwere Reiter uraufgeführt wurde. (Foto: Sebastian Kiener)

In Léonard Engels großartiger Tanzperformance "Parotia" im Schwere Reiter dreht sich alles.

Von Sabine Leucht, München

Wellen in Pink, Petrol und Lila verschlingen einander auf weißem Grund. Der üppig portionierte Stoff endet kurz über dem Boden in von Gummireifen beschwerten Wogen. Bis die in Léonard Engels neuem Tanzstück "Parotia" abheben, dauert es. Doch schon der Weg dahin ist sehenswert. Die Tänzer Gizem Aksu, Lisa Stertz und Angelo Petracca entern nacheinander die leere Spielfläche des Schwere Reiter, Josa Marx' oben beschriebenes Kunstwerk als Glockenrock über lila Overalls tragend. Und dann geht es extrem langsam los mit dem, woraus der ganze Abend besteht: Man dreht sich - die linke Hand vor dem Körper, die Sinne nach innen geöffnet.

Allmählich steigert sich das Tempo

Eine stille, hochkonzentrierte Aktion, die sich nach und nach ins Spektakuläre weitet, da Tempo wie Intensität zunehmen und die Winkel und Achsen sich verschieben: Sowohl die des Dreiecks, das die sich Drehenden zueinander bilden, als auch die der Körper, um die die Röcke wie Teller fliegen oder sich aufstellen wie der Federkranz des titelgebenden Strahlenparadiesvogels in der Balz. Diese linksdrehende, abstrakte Kunst wird befeuert vom mahlenden Sound des Elektronik-Duos 9T Antiope, in den sich ein metallisches Hämmern und Zirpen mischt.

Man könnte sich als Zuschauer einfach davon hypnotisieren lassen. Das aber verhindern die immer neu zu entdeckenden Details. Hände wandern nach vorne und Arme nach oben, winken, führen, schieben, balancieren aus oder manipulieren den Rock, der vom meditativen Farbenwirbel zum scharfkantigen Kampfkreisel und wieder zurück mutiert. Es ist, als hätten die Tänzerkörper das komplette Vokabular von Drehbewegungen inhaliert - den Trance-Tanz der Derwische wie den ägyptischen Volkstanz Tanoura, die kinetischen Skulpturen der Bauhausballette, die klassischen Fouettés und das alpenländische Dirndldrahn - und nun träumte jeder für sich polyglott vor sich hin. Mal sind die Träume weich und schön, mal fast aggressiv.

Gegen Ende waschen Lichtwechsel die Farben aus den Kreiseln und die Tänzer pressen sich ihre Röcke wie Babys oder abgestreifte Verpuppungen an die Brust. Zuletzt ganz von ihnen befreit, torkeln sie über die Bühne - ohne diese Prothesen bar jeder Richtung und jeden Halts. Da ist dem langjährigen Solisten des Bayerischen Staatsballetts ein grandioser Abend gelungen.

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