Ampel-Koalition:Eine neue Regierung muss vielfältiger sein

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Die deutsche Politik vertrüge mehr biografischen Furor, wie ihn der Grünen-Politiker Cem Özdemir mitbringt. (Foto: Marijan Murat/picture alliance/dpa)

In Berlin kursieren Listen mit Namen von den Mitgliedern eines künftigen Kabinetts - nur findet sich darauf kein Mensch mit Einwanderungsgeschichte. Wenn das so kommen sollte, kann die Ampel gleich wieder einpacken.

Kommentar von Constanze von Bullion

Töchter und Söhne von Einwanderern sind verzichtbar in oberster Regierungsverantwortung - diese Botschaft ist den Kabinettslisten zu entnehmen, die in Berlin seit Tagen kursieren. Zu lesen steht da in allen Varianten, wer in der nächsten Bundesregierung angeblich welchen Ministerposten bekommt. Vieles ist erfunden oder absichtsvoll verdreht. Eines aber haben alle Listen gemein: Sie führen keinen türkischen, muslimischen oder sonstwie nach Migration klingenden Namen für ein Ministeramt. Um es abzukürzen: So wird das nichts.

Eine Ampel-Regierung, die keine starken Persönlichkeiten mit Einwanderungsbiografie vorweist, kann gleich wieder einpacken. Sie wäre so wenig ernst zu nehmen wie ein Kabinett, das ohne Frauen oder Ostdeutsche auszukommen meint. Denn es stimmt eben nicht, dass benachteiligte Gruppen oder Minderheiten ebenso gut von der privilegierten Mehrheitsgesellschaft mitvertreten werden können, nach dem Motto: Lasst uns mal machen, wir können es sowieso besser. Wer unten ist in der Gesellschaft oder an Teilhabe gehindert, muss selbst sprechen und für seine Rechte eintreten können, zumal in einer Regierung, die sich mit Modernisierung schmückt.

Deutschland sollte sich auch verabschieden vom verschämten Beauftragtenwesen. Seit Jahrzehnten behilft sich die Politik mit Migrations- wie Ostbeauftragten, weil man ihre Anliegen anderweitig nicht unterkriegt. Oder anders ausgedrückt: nie ernst zu nehmen gedachte. Die letzte Integrationsbeauftragte, Annette Widmann-Mauz, hat jahrelang an der Tür von Innenminister Horst Seehofer kratzen dürfen. Sie hat gewissenhaft, aber ohne den nötigen Zorn, die Nöte der Einwanderungsgesellschaft vorgetragen. Seehofers Leute haben sie ausgelacht, intern. So leicht dürfen es migrantische Gruppen der Politik nicht mehr machen.

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Menschen aus interkulturellen Milieus stellen mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland und belegen jeden fünften Hochschulplatz. Ihr wichtigstes Anliegen aber, gleiche Zukunftschancen, delegieren sie ans Maskottchenwesen. Annette Widmann-Mauz war so ein Maskottchen. Aber auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir droht eines zu werden, wenn er jetzt nicht Minister wird.

Man kann Özdemir mit Grund persönlich schwierig finden. Aber dass er das Zeug hat für oberste Regierungsämter, ist ihm schwer abzusprechen. Dazu kommt, die AfD hat das im Bundestag erleben dürfen, die nötige Portion Weißglut eines Gastarbeitersohns, der rassistisches Gebrüll nicht hinzunehmen gedenkt. Dieser biografisch begründete Furor wird gebraucht, damit Diversität in höchsten Positionen endlich so selbstverständlich wird wie die Erkenntnis, dass Blondsein den Verstand nicht behindert.

Selbstermächtigung allerdings kann nicht beim ewigen Özdemir stehen bleiben. Es sind da mehr Stimmen nötig. Bis auf eine Handvoll Immergleicher aber bleibt die postmigrantische Community zu leise, mal aus Bequemlichkeit, mal aus einem diffusen Gefühl, nicht befugt zu sein. Viele jüngere, studierte Einwandererkinder sind auch zu stolz, sich auf ethnische Herkunft reduzieren zu lassen und verzichten deshalb darauf, sich für ihre Herkunftsmilieus einzusetzen. Wer Blessuren allerdings scheut, wird weiter in der zweiten Reihe bleiben, auch unter der Ampel-Regierung. Kämpfen müssen benachteiligte Minderheiten schon selbst, andere werden es nicht für sie tun. Dafür sind die Privilegien, um die es geht, zu kostbar.

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