Künstlerisches Erfinden trifft auf dokumentiertes Zeitgeschehen:Schwarz in XXL

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Herbert Nauderer gestaltet die erste künstlerische Intervention im Waldramer Badehaus: "Sektor 31 - The Neighbourhood"

Von Stephanie Schwaderer, Wolfratshausen

Ein Blick durchs Fenster löst Unbehagen aus. (Foto: Hartmut Pöstges)

Das Badehaus in Waldram ist ein Ort des Erinnerns, des Bewahrens und Bezeugens jüngerer deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Seit einigen Tagen ist es zudem ein Ort des Erschauderns. Ein Ort, der nicht nur Kopf und Herz anspricht, wie es die gelungene Dauerausstellung und die Zeitzeugenberichte tun, sondern noch einmal ganz andere Rezeptoren aktiviert, tieferliegende, irgendwo dort, wo man gewöhnlich seine Ängste verwahrt und anderes Verdrängtes, Erschütterungen, Traumata. Zu verdanken ist dies einer künstlerischen Intervention von Herbert Nauderer mit dem Titel "Sektor 31 - The Neighbourhood".

Für das Badehaus ist die Aktion eine Premiere, für den international renommierten Künstler ebenfalls. Nauderer, der mit seiner Familie in der Gemeinde Münsing lebt, hat seit Jahrzehnten nicht mehr im Landkreis ausgestellt; vor allem deshalb, weil es keine passenden Räume gibt. Über die Jahre hat er einen gigantischen Kosmos voller Abgründe erschaffen, den lange Zeit der Mausmann dominierte - eine verstörende Männergestalt mit Mickymauskopf. Mittlerweile hat eine neue Figur den Mausmann abgelöst: der Erfinder.

Ihm hat Nauderer im Sommer eine große Ausstellung in Rosenheim gewidmet. Die Schau dokumentierte anhand von Karten, Fotografien, Zeichnungen, Installationen und Videos eine verheerende Expedition auf Parasite Island, vermutlich ging es um die geheime Suche nach einer legendären Nazi-Festung in der Antarktis. Die 16 Männer, die mit einem U-Boot Richtung Südpol aufbrachen, stießen auf Grauenhaftes, auf bizarre Siedlungen, Labore, Menschenversuche. Keiner überlebte. Die Expedition war frei erfunden - "erstunken und erlogen", wie Nauderer vergnügt sagt. "Aber viele Leute haben nach der Ausstellung gegoogelt und waren erstaunt, dass sie nichts darüber fanden." Im Frühling will er seine Verschwörungstheorie im Kunstmuseum Heidenheim weiterspinnen. Eine Expedition soll auf die Suche nach der verschollenen Expedition gehen.

Wie gehen wir mit unserer Geschichte um? Diese Frage wirft der international renommierte Künstler Herbert Nauderer mit seiner Intervention "Sektor 31 - The Neighbourhood" im Badehaus auf. (Foto: Hartmut Pöstges)

Und dazwischen nun also eine kleine Intervention in Waldram, mit der er an seine großen aktuellen Arbeiten zu Geschichte und Zeitgeschehen anknüpft. Wie verträgt sich der Ansatz des künstlerischen Erfindens mit dem Anspruch, Geschehenes zu dokumentieren? Die Antwort lautet: bestens. Oder um Sybille Krafft, Vorsitzende des Badehaus-Vereins, zu zitieren: "Kongenial. Als seien die Arbeiten für diesen Ort gemacht."

Im Vorraum empfängt den Gast eine Installation, die harmlos wirkt, aber eine starke Suggestionskraft entfaltet. In einer Vitrine ist eine putzige Häuserzeile aufgereiht, sieben Häuschen, wie man sie von Modell-Eisenbahnen kennt. Sie könnten auch in Waldram, der früheren NS-Rüstungsarbeitersiedlung Föhrenwald, stehen, bunt, spitzgiebelig, anheimelnd. Dazwischen: ein pechschwarzes Haus. Schwarze Fenster. Schwarzes Dach. Wie verbrannt steht es da. Ein Fremdkörper, der irritiert und Unbehagen auslöst.

Erklärungen will Nauderer nicht liefern. "Ich arbeite intuitiv", sagt er. "Jeder kann denken, was er will." Aber natürlich frage man sich: Welche Geschichten verbergen sich in dem Haus? Was erzählen Häuser über die Menschen, die einst dort gelebt haben? Sybille Krafft lässt ihren Assoziationen bei einem Presserundgang freien Lauf. Die bunten Modell-Häuschen seien wie die realen in Waldram im Heimatstil der Nazis erbaut. Und auch dort habe sich alles in der Nachbarschaft abgespielt: "Zwangsarbeit, der Todesmarsch, die Shoah. Das war nicht irgendwo", sagt sie. "Das Grauen war vor der Haustür."

Im nächsten Raum erwartet das schwarze Haus die Besucher in einer bedrohlichen XXL-Variante. Es ist jetzt so groß wie ein Kinderspielhaus. Aber keine Mutter, kein Vater, kein Mensch würde einem Kind dieses schwarze Haus zumuten. Oder? Es hat keine Tür, nur ein kleines Fenster. Wer hindurchschaut, sieht ein Stühlchen und einen kleinen Tisch (beides stammt aus dem einstigen Kindergarten des jüdischen DP-Lagers Föhrenwald). Sie füllen den Raum auf erdrückende Weise aus. Es gibt keinen Spielraum. Auf dem Tisch steht ein Teller mit pechschwarzer Suppe. Die muss offenbar geschluckt werden. Darüber baumelt eine nackte Glühbirne. Flankiert wird die Installation durch eine poetische Videoarbeit zu den "Terzinen über Vergänglichkeit" von Hugo von Hofmannsthal und eine großformatige Zeichnung, die dokumentiert, dass Nauderer nicht nur ein subtiler Geschichtenerfinder, sondern auch ein begnadeter Zeichner ist.

Kernstück der Ausstellung ist ein schwarzes Haus mit Kindermöbeln aus dem DP-Lager Föhrenwald. (Foto: Hartmut Pöstges)

Der schwarzen Suppe begegnet man im dritten Raum wieder, jenem, der den Zwangsarbeitern der NS-Rüstungsindustrie gewidmet ist. Auf dem Boden stehen alte Munitionskisten, gefüllt mit Sprengstoff, Spezialschuhen, einer Gasmaske. An der Wand dahinter hat Nauderer einen Teil seiner Arbeit "Das Archiv" aufgebaut. In zwei Metallregalen reihen und stapeln sich unbeschriftete Kartons. Drei Überwachungsmonitore zeigen Menschen, die eben jene schwarze Suppe löffeln. Ein Teller davon steht auch im Regal. Die Videos stammen aus Nauderers Film "Parasite Island" aus dem Jahr 2016; wer genauer hinschaut, erkennt Sepp Bierbichler und Sibylle Canonica. Sie übernahmen seinerzeit die Aufgabe, die Eltern des Mausmanns zu spielen. Auf einem alten Fernseher links unten im Regal laufen Original-Aufnahmen vom Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945 - Soldaten werden Richtung Atompilz geschickt. Der Höhepunkt einer brutalen Kriegsmaschinerie.

Für Sybille Krafft bedeutet Nauderers Intervention ein "großes künstlerisches Geschenk". Die Arbeiten brächten einen "neuen Impuls" ins Haus. "Wir sehen die Dinge plötzlich anders." Für Freunde des Hauses wie für Leute, die erstmals den Erinnerungsort besuchten, seien die Arbeiten eine Bereicherung. Nauderer wiederum zollt dem Badehaus-Verein Respekt. Neben den inhaltlichen Überschneidungen ihrer Arbeitsgebiete beeindrucke ihn, was die Leute in Waldram in Eigeninitiative auf die Beine gestellt hätten und ehrenamtlich am Leben erhielten. "Das ist toll."

Geht es nach Krafft, soll die Kunst im Badehaus einen festen Platz bekommen. Michael von Brentano aus Seeshaupt habe bereits zugesagt, die nächste Intervention zu übernehmen. Bis März sind Nauderers Arbeiten zu sehen. Nachbarschaftliche Beziehungen, so viel lässt sich festhalten, können auch etwas Wunderbares sein.

Infos unter erinnerungsort-badehaus.de

© SZ vom 25.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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