"1000 Jahre Freud und Leid":Zwei Asse trumpfen auf

'1000 Jahre Freud und Leid' By Ai Weiwei - Book Presentation In Berlin

Ai Weiwei und Daniel Kehlmann

(Foto: Gerald Matzka/Getty Images)

Der Künstler Ai Weiwei stellt in Berlin seine Autobiografie vor, im Gespräch mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann. Und plötzlich lässt er sich besser begreifen.

Von Sonja Zekri

Als der Schauspieler Veit Schubert auf der Bühne des Berliner Ensembles die Passage liest, in der Ai Weiwei und sein Vater ihre eigenen Bücher verbrennen - Baudelaire, Majakowski, Lorca -, macht Ai Weiwei ein Handy-Video von ihm. "Bei einem nach dem anderen riss ich die Seiten heraus und warf sie ins Feuer", las Schubert: "Wie untergehende Gespenster krümmten sie sich in der Hitze." Die Szene ist ein Schlüsselmoment in Ai Weiweis Autobiografie "1000 Jahre Freud und Leid". Der Sohn hilft dem Vater Ai Qing, seine geliebte Bibliothek zu vernichten, weil die Zerstörung den "Rechtsabweichler" Ai Qing vor dem Zorn der Roten Garden schützen soll, und aus dieser Katastrophe erwächst eine lebenslange Aufgabe, fast ein Schwur: In dem Moment, als die Bücher zu Asche wurden, "erfasst mich eine seltsame Kraft", schriebt Ai Weiwei: "Eine Verpflichtung zur Vernunft, zu einem Sinn für Schönheit - diese Dinge sind unbeugsam." In den Flammen der brennenden Bibliothek wurde der Künstler Ai Weiwei geboren, ein Künstler in der Tradition seines Vaters. Kultur kann zerstört werden, das begriff er. Aber was folgte danach?

"1000 Jahre Freud und Leid" (Penguin Verlag) ist die Autobiografie des Künstlers Ai Weiwei, aber ebenso sehr ist es die Biografie seines Vaters. Ein "ehrlicher Mann", sei er gewesen, gerechtigkeitsliebend, patriotisch: "Und er hatte das Glück, dass er sein Land nie verlassen musste", sagte Ai Weiwei in Berlin. In Europa ist es sein einziger Auftritt zur Vorstellung seines Buches, und nach Ai Weiweis schimpfender Abreise aus Berlin 2019 ist das doch beachtenswert. Nachdem Schubert eine weitere Passage gelesen hat, scherzt Ai Weiwei, wenn er gewusst hätte, dass sein Text auf Deutsch so gut klinge, wäre er womöglich länger in Berlin geblieben. Damit ist klar: Eine Abrechnung mit Deutschland wird dies nicht.

Die Deutschen neigen dazu, Kritik "ein wenig persönlich" zu nehmen

Obwohl sein Gesprächspartner auch dafür offen wäre. Er könne über seine unerfreulichen Begegnungen in Deutschland ruhig sprechen, daraus könne man ja nur lernen, ermuntert Daniel Kehlmann den Künstler. Aber Ai Weiwei mag nicht. Was er gesagt habe, sei ja nur eine Einzelmeinung, er habe nun mal eine "große Klappe" und auch nicht immer recht, sagt er nicht ohne Ironie. Und ergänzt dann immerhin, dass die Deutschen dazu neigten, Kritik "ein wenig persönlich" zu nehmen.

Ai Weiwei wurde im Jahr der Kulturrevolution 1957 geboren. Als der Schrecken zehn Jahre später in seine nächste, noch dunklere Phase trat, wurde sein Vater verbannt und nahm den Sohn mit. Ai Qing, der Mao kannte, ja, mit dem sich Mao in einer der abgründigsten Szenen des Buches sogar zu beraten vorgab, war als Verfasser "bourgeoiser" Werke in Ungnade gefallen, und wurde nach "Klein-Sibirien" in Xinjiang verbannt. Es war eine unwirtliche Gegend, ein Auffangbecken für die "fünf schwarzen Kategorien: Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, schlechte Elemente und Rechtsabweichler", schreibt Ai Weiwei.

Es ist eine Gulag-Kindheit. Die beiden lebten in einem Erdloch, klebten Zeitung an die Wände, hinter der sich Ratten versteckten, und kochten die Kleidung aus, um die Läuse loszuwerden. Manchmal fällt ein Schwein in das Loch. Der Vater muss die Latrinen säubern, dreizehn Gemeinschaftstoiletten, die im Wesentlichen aus Balken über einer Jauchegrube bestanden. Ehe er die Arbeit aufnahm, rauchte er eine Zigarette und begutachtete die gefrorenen Fäkalienhaufen, "als bewundere er eine Skulptur von Rodin".

"1000 Jahre Freud und Leid": Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen. Aus dem Chinesischen von Norbert Juraschitz und Elke Link. Penguin, München 2021. 416 Seiten, 38 Euro.

Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen. Aus dem Chinesischen von Norbert Juraschitz und Elke Link. Penguin, München 2021. 416 Seiten, 38 Euro.

Sein Leben lang wird Ai Weiwei sich zu Höhlen hingezogen fühlen, stecken ihm diese Jahre in den Knochen. Er zieht Kraft aus der die Gewissheit eines Außenseiters, der um seine Außenseiter-Stellung weiß. Heute, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, wird er manchmal gefragt, ob er mit dieser Haltung nicht kokettiere, schließlich habe er alles erreicht, was ein Künstler erreichen könnte. Aber diese Frage setzt voraus, dass Ausstellungen, Aufmerksamkeit und Würdigungen eine so grausame Kindheit auslöschen oder umschreiben könnten. Als ob das eine mit dem anderen irgendetwas zu tun hätte.

Der Verbannungs-Teil ist der eindrucksvollste Part des Buches, eine Höllenfahrt in die Tyrannei, die umso beklemmender ist, als die Menschen - wie Ai Qing - an die Tyrannen glaubten. Die alte Welt musste ausgelöscht werde, damit eine neue entstehen könnte, an diese Ideologie glaubten auch ihre Opfer. Jeden Tag erlebte Ai Weiwei, wie sein Vater im Speisesaal an eine Schüssel schlagen und sich selbst anklagen musste, die Rituale ungezählter Demütigungen gehörten so selbstverständlich zum Alltag des Kindes wie die endlose Natur.

Ai Weiwei beschreibt das Leid und die Deformierungen von Millionen Menschen trocken, fast lakonisch. Dass dies weniger literarischer Trick als eher eine Überlebensstrategie ist, ahnt man, als Kehlmann fragt, wie er diese Zeit überhaupt ausgehalten habe, warum er daran nicht zerbrochen sei. "Ich war ein dummes Kind und nicht sehr sensibel", behauptet Ai Weiwei: "Sonst wäre ich verrückt geworden." Man muss das nicht glauben, aber dennoch hat der Satz seinen Sinn.

Kehlmann gibt sich an diesem Abend begeisterungsfähig, ehrfürchtig und manchmal offensiv naiv, ein Luftgeist, eine Art sonnige Version von Kevin Kühnert, aber unverkennbar auch: ein Mann aus dem Westen. Dagegen wirkt Ai Weiwei schwerer, bullig, kraftvoll, dabei hellwach. Zu einem aufschlussreichen Missverständnis kommt es, als Ai Weiwei das Verhältnis des Westens und Chinas skizziert. Beide seien Konkurrenten, die nicht nur nach anderen Spielregeln spielten, sondern ganz andere Spiele: "Der Westen spielt Schach, China spielt Go", so Ai Weiwei. Kehlmann machte daraus: "Der Westen spielt Schach, China spielt Golf".

"1000 Jahre Freud und Leid" umspannt zeitlich, räumlich und ideologisch ganze Universen. Als Ai Weiwei in den Achtzigerjahren nach 30 Jahren Isolation im kommunistischen China nach New York kam, in die Stadt Ginsbergs und Warhols, habe er sich gefühlt wie ein Eisbrocken in kochendem Wasser. Die bizarren, mal brutalen, mal stümperhaften Repressionen der chinesischen Behörden beschreibt Ai Weiwei mit exhibitionistischer Detailgenauigkeit.

Manche Wesenszüge lassen sich tatsächlich besser begreifen, manche Kritik erscheint plötzlich ahnungslos. Als Ai Weiwei nach Lesbos zu den Flüchtlingen fuhr, als er sogar als toter Flüchtlingsjunge Alan Kurdi posierte, wurde ihm das als politische Trittbrettfahrerei ausgelegt, als geltungssüchtig und frivol. Aber wenn er jetzt in Berlin beschreibt, wie die Zelte, der Dreck, die Angst Erinnerungen an seine Kindheit zurückbrachten, wie alle Gewissheiten über europäische Werte zerbrachen, sollte man manche Vorwürfe noch einmal überdenken.

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