Hertha gegen Augsburg:Getreten, gekrümmt, gepennt

27.11.2021, xfrx, Fussball 1.Bundesliga, Hertha BSC Berlin - FC Augsburg emspor, v.l. Hertha Spieler diskutieren nach G

Er war's! Er war's! Herthas Spieler diskutieren nach dem späten Gegentreffer mit dem Schiedsrichter.

(Foto: Julius Frick/Jan Huebner/Imago)

Eine wilde Kampfszene raubt Hertha BSC so sehr die Konzentration, dass der FC Augsburg in der 97. Minute noch zum Ausgleich kommt. Herthas Trainer Pal Dardai beklagt anschließend eine unruhige Nacht.

Von Javier Cáceres, Berlin

Es gibt bei jedem Menschen Körperregionen, die als überaus empfindlich gelten. Und da das Schmerzempfinden individuell unterschiedlich ausgeprägt ist, wäre es nicht statthaft, auch nur ansatzweise in Abrede zu stellen, dass Herthas Stürmer Davie Selke in der Nachspielzeit der Partie gegen den FC Augsburg heftige Pein verspürte.

Die angezeigte Nachspielzeit von vier Minuten war gerade abgelaufen, als Selke an der Eckfahne der Augsburger Hälfte den Ball gegen den Augsburgs Verteidiger Iago abschirmte und dieser zutrat und wieder zutrat und noch mal zutrat, als wollte er eine vom Himmel gefallene Piñata zerstören. Nur, vor ihm lag eben nicht ein mit Krepppapier umwickelter Sack voller Süßigkeiten und Früchten. Sondern ein Ball und Selke, der sich plötzlich krümmte und aufschrie, als ob ihm mehr Wunden zugefügt worden wären als weiland dem Heiligen Sebastian, und das nicht am Ohrläppchen.

Wie sich Selke am Boden wälzte, sah allerdings ein wenig overacted aus, wie ein englischsprachiger Theaterkritiker formulieren würde. Andererseits: "Mein Gegenspieler hat mir bewusst in den Genitalbereich geschossen!", sollte Selke später klagen. Die Szene hatte Folgen: Selkes Kameraden eilten herbei, die Augsburger hinterher, es kam zu Hektik, Geschubse und Gezeter, folglich insgesamt zu einer Lage, nach der es objektiv schwerfallen musste, Konzentration und damit Übersicht und Ordnung zu bewahren. Zum Glück für die Augsburger: Sie bekamen einen Freistoß zugesprochen (der Referee entschied auf regelwidriges Sperren des Balles durch Selke), sie ließen den Ball auf die rechte Seite sausen, und als er in den Strafraum flog, war Michael Gregoritsch mit dem Kopf zur Stelle, übersprang alle Verteidiger - und glich zum 1:1 aus. In der 97. Minute, mit dem letzten Hauch einer Partie, die bis dahin nicht danach verlangt hatte, der Menschheit in Erinnerung zu bleiben.

Beim ersten Tor macht sich bemerkbar, dass der FC Augsburg auf vier Innenverteidiger verzichten muss

Ob man in besagter Szene nicht hätte kühlen Kopf bewahren müssen, wurde Selke gefragt; er reagierte pikiert. Und überhaupt, die Versammlung am anderen Ende des Platzes sei nur ein Ausweis der mannschaftlichen Geschlossenheit gewesen: "Es zeigt, dass wir ein Team sind, wenn einer, auf Deutsch gesagt, einen in die Eier geschossen bekommt, und das Team kommt." Herthas Trainer Pal Dardai war da tendenziell anderer Ansicht: "Es war die 95. oder 96. Minute und alle rasten aus ...", ärgerte er sich: "Da kommst du aus dem Konzept. Das darf nicht sein. Wir müssen den Gegner den Freistoß machen lassen und konzentriert bleiben." Auf der anderen Seite glaubte Augsburgs Manager Stefan Reuter, dass da eine Art übergeordnete Gerechtigkeit gewaltet habe. "Ich konnte es nicht richtig sehen", schickte er relativierend voraus, "aber mein Gefühl war: Da war ein bisschen Schauspielerei dabei. Und das wird manchmal bestraft."

Wobei die größere Genugtuung dem Umstand galt, dass der FCA, obschon er auf dem 16. Tabellenplatz verblieb, den Abstand zur Hertha weiterhin auf nur einen Zähler begrenzt hielt. Damit hatte man nach diesem Spielverlauf nicht unbedingt rechnen müssen. Erstens, weil die Berliner recht gute Torchancen hatten (allerdings auch ausließen) - und zweitens, weil die Entstehung der Berliner Führung dazu angetan war, die Augsburger in ihren Grundfesten zu erschüttern.

Am Samstag hatte Augsburg auf jeden einzelnen seiner vier Innenverteidiger verzichten müssen. Zu den Aushilfskräften zählte neben dem Bundesliga-Debütanten Frederik Winther auch Robert Gumny, der sonst Rechtsverteidiger spielt. "Ich hab' auch manchmal Innenverteidiger spielen müssen. Mir ist das immer sehr schwergefallen", sagte FCA-Manager Reuter, der es 1990 als Rechtsverteidiger immerhin zum Weltmeistertitel gebracht hat. Gumny machte seine Sache gut - außer in der 40. Minute, als er der Hertha den roten Teppich ausrollte, weil zu viele Gedanken durch seinen Kopf ratterten.

Der Ball lag offen vor ihm, er hatte den Blick zum eigenen Tor gerichtet, aus dem Rafal Gikiewicz herausgeeilt gekommen war. Doch als sie das Weiß in den Augen des jeweiligen Gegenübers erkennen konnten, rollte der Ball nicht richtig weiter, geriet die Situation außer Kontrolle, weil Gumny im Nacken den Atem von Herthas Marco Richter verspürte.

"Ich glaub', dass er zuerst zurückspielen wollte und dann dachte: Ach du Scheiße! Der ist ganz dicht drauf", sagte Reuter. Gumny traf eine fatale Entscheidung: Statt den Ball auf die mit nur 14 000 Zuschauern gefüllten Tribünen zu befördern, legte er ihn sich nach rechts. Richter sprintete dazwischen - und schoss ins leere Tor.

Der Rest des Spiels war von zwei wegen Abseits (zu recht) annullierten Hertha-Toren geprägt, und vom Augsburger Glauben, noch den Ausgleich zu erzielen. Er kam dann auch, siehe oben, in letzter Minute. "Unterm Strich war das ein Auswärtsspiel, auf dem wir aufbauen können", sagte Reuter. Im Berliner Westend hingegen schadete dieses Remis der nächtlichen Ruhe. "Das war die erste Nacht, in der ich um drei Uhr aufgewacht bin", sagte Trainer Pal Dardai am Sonntagvormittag. Dann lag er wach und dachte länger nach als Gumny. Das Zwischenziel, das Dardai ausgegeben hat - 20 Punkte bis Weihnachten -, ist nun ernsthaft in Gefahr geraten.

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