Justiz:Brüssel stellt Verfahren gegen Deutschland ein

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Die Bundesrepublik sichert Vorrang des europäischen Rechts zu und entgeht damit einer Klage der EU-Kommission.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Signale standen auf Eskalation, doch nun findet die Sache ein stilles Ende. Das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission im Juni mit großem Aplomb gegen Deutschland eingeleitet hatte, wird eingestellt. Die Kommission hatte damals auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 reagiert, das der Europäischen Zentralbank und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit harschen Worten eine Überschreitung ihrer Befugnisse aus den europäischen Verträgen attestiert hatte - "ultra vires", wie dies in der Juristensprache heißt. Weil Karlsruhe sich damit über ein Urteil des EuGH zu den Anleihekäufen der EZB hinweggesetzt hatte, sah die Kommission den Vorrang des EU-Rechts infrage gestellt - und wollte offenkundig mit Blick auf die rechtsstaatlichen Erosionstendenzen in Polen und Ungarn ein klares Zeichen setzen.

Tatsächlich hatte Polen das Karlsruher Urteil dankbar aufgegriffen, um damit europäischen Urteilen zur Rechtsstaatlichkeit die Legitimation abzusprechen. Überzeugend war dies freilich nie; das Bundesverfassungsgericht hatte eine stärkere Rolle des EuGH gegenüber der EZB eingefordert. In Warschau dagegen ging es stets um weniger europäische Kontrolle.

Ihre Einstellungsverfügung begründet die Kommission damit, dass die Bundesregierung den Anwendungsvorrang des EU-Rechts anerkannt habe, vor allem die grundlegende Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit. Zudem bekenne sich Deutschland explizit zur Autorität des EuGH, dessen Urteile endgültig und bindend seien.

Dabei wird freilich deutlich, welche Gratwanderung die Regierung unternommen hat - weil die Exekutive dem obersten deutschen Gericht nun mal keine Vorgaben machen kann. Das gilt auch für die Anwendung des Ultra-vires-Prinzips, das indes auf seltene Fälle beschränkt ist. Im Urteil des Verfassungsgerichts vom Mai 2020 kam es erstmals zur Anwendung.

So schreibt die Kommission: Deutschland "berücksichtigt", dass Akte von EU-Institutionen nicht durch Klagen vor nationalen Gerichten auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden können, sondern allein durch den EuGH. Ähnlich vorsichtig ist auch diese Formulierung: Die deutsche Regierung verpflichte sich, "alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um künftig eine Wiederholung einer Ultra-vires-Entscheidung zu vermeiden", und nehme hier eine aktive Rolle ein. Das muss man so lesen, dass der Regierung jedenfalls ein Mittel nicht zur Verfügung steht: der Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts.

Damit ist ein Konflikt beigelegt, der - hätte die EU-Kommission ihn auf die Spitze getrieben - die Regierung in ein Dilemma getrieben hätte, weil sie dem Verfassungsgericht nun mal nichts vorschreiben kann. Dass sich ein derart konfrontatives Urteil wiederholt, ist derzeit eher nicht zu erwarten. Die harsche Kritik ist am Gericht nicht spurlos vorübergegangen, zudem ist der zuständige Zweite Senat inzwischen anders zusammengesetzt.

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