Firmenporträt:High-Tech am Körper

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Hilfe beim Heben: In der Pflege, der Industrie oder wie hier in der Logistik unterstützt das Exoskelett-Modell Paexo Back von Ottobock die Mitarbeiterinnen bei der Arbeit. Das Modell kostet rund 6000 Euro und wiegt etwa vier Kilo. (Foto: Ottobock)

Das Familienunternehmen Ottobock stellt seit mehr als hundert Jahren Prothesen her. Nun bereitet sich der Weltmarktführer auf einen möglichen Börsengang vor.

Von Katharina Kutsche, Duderstadt

Ein Exoskelett trägt sich fast wie ein Wanderrucksack. Schultergurte anlegen, die Riemen an Bauch und Armen festschnallen und los geht's. Knapp zwei Kilo wiegt das Stützsystem Modell Paexo Shoulder, das Arbeiter entlastet, wenn sie über Kopf arbeiten müssen. Die Oberarme liegen in zwei Schalen, deren Seilzüge über den Rücken in einen Taillengurt laufen. Lastet Gewicht auf den Schultern, wird das in Beine und Boden geleitet. Und trotz der Gurte bleibt genug Bewegungsfreiraum.

In den Exoskeletten liegt ein Teil der Zukunft von Ottobock. Das Unternehmen aus Südniedersachsen entwickelt und vertreibt sie seit 2018. Die Stützsysteme sollen den Körper arbeitsfähig halten. Es ist ein Segment mit Wachstumspotenzial. Jeder Arbeiter, der hebt und montiert, strengt sich physisch an. Ihm buchstäblich unter die Arme zu greifen, minimiert Verletzungsrisiken und senkt die Produktionskosten in der Logistik, Industrie oder Pflege, eben allen Bereichen, in denen Menschen belastet sind.

Der Mittelständler hat sich über die Jahrzehnte zum Weltmarktführer in der Prothetik entwickelt. Rund eine Milliarde Euro Umsatz machte Ottobock 2019 mit Bein- und Armprothesen, Orthesen, Rollstühlen und Exoskeletten. Damit gehört die Firmengruppe zu den zehn größten Health-Tech-Firmen in Deutschland. Nun steht für 2022 ein Börsengang im Raum, der das Kapital für noch mehr Innovation bringen soll.

"Ob und wann, bleibt offen"

Die Details sind noch nicht offiziell. CEO Philipp Schulte-Noelle sagt nur: "Wir möchten als Unternehmen ab 2022 börsenreif sein. Ob und wann wir an die Börse gehen, bleibt offen."

Geld braucht Ottobock etwa für die Digitalisierung. Was früher mit Gips abgeformt wurde, vermessen Orthopädietechniker heute mit einem Scanner. 3D-Drucker und CNC-Fräse übernehmen immer mehr von dem, was sonst Handarbeit ist. Die Produkte bestehen aus Titan, Aluminium, Carbon und Polyurethan statt wie früher aus Pappelholz. Das Holzbein ist ersetzt durch mechatronische Prothesen, die hundert Mal pro Sekunde messen, wie schnell sich ihr Träger bewegt und aus der Hüftbewegung heraus erkennen, ob er eine Treppe hochgehen will oder zu einem Sprung ansetzt. Schon jetzt arbeiten die Hilfsmittel mit künstlicher Intelligenz und App-Steuerung; in Zukunft sollen sie noch smarter werden.

Das Familienunternehmen Ottobock stellt seit mehr als hundert Jahren Prothesen her. Mit den früheren Modellen aus Pappelholz haben die heutigen Hightech-Prothesen nur noch wenig gemein. (Foto: Marco Moog/Ottobock)

Das war zwei Generationen zuvor nicht denkbar. Als Otto Bock 1919 seine Firma gründete, wurden Prothesen für jeden Patienten einzeln geschnitzt. Und Versehrte gab es nach dem Ende des Ersten Weltkriegs reichlich. Bock zerlegte die Prothese in ihre Einzelteile und produzierte das in Serie, was immer gleichbleibt: Gelenke, Verbindungsstücke und Prothesenfüße. Das war die Basis seines Erfolgs.

Wer ist hier der Boss?

Produziert wurde damals im thüringischen Königssee. Nach ihrer Enteignung siedelte die Familie Bock nach Duderstadt um. Dort, im Landkreis Göttingen, sitzt der Betrieb seit 1947, neu aufgebaut von Max Näder, dem Schwiegersohn des Gründers. 1990 übergab Näder die Geschäftsführung an seinen Sohn Hans Georg.

Der Milliardär gilt als schillernde Figur. Ein Kunstliebhaber, der Schal statt Krawatte trägt und Segelyachten liebt. Dessen Privatleben in Boulevardmedien wie Bild und Bunte vermessen wird und der Projekte in der Region genauso großzügig sponsert wie die CDU und die FDP, denen er im August je 250 000 Euro zukommen ließ. Unter seiner Führung expandierte das Familienunternehmen, das heute rund 8000 Menschen in 60 Ländern beschäftigt.

Wenn es um den zukünftigen Erfolg des Konzerns geht, ist Hans Georg Näder, 60, aber möglicherweise die große Unbekannte, denn wer hat das Sagen? 2017 strukturierte er den ganzen Laden um. Seine Tochter Georgia, heute 24, bekam einen Sitz im Aufsichtsrat. Aus einer GmbH wurde eine Kommanditgesellschaft auf Aktien, ein Börsengang war geplant. Näder entschied sich dagegen und holte stattdessen EQT ins Boot. Die schwedische Beteiligungsfirma hat schon viele Unternehmen börsenreif gemacht, darunter das Nürnberger Software-Unternehmen Suse und sich selbst.

Ein atypischer Börsengang

Anfang 2018 gab es erstmals einen Geschäftsführer außerhalb der Familie. Oliver Scheel hielt sich nur zehn Monate auf dem Posten. Philipp Schulte-Noelle, 45, damals Finanzchef, wurde neuer CEO. Näder sitzt dem Verwaltungsrat vor; über seine Holding hält er 80 Prozent an Ottobock, EQT gehören 20 Prozent.

Schulte-Noelle ist Wirtschaftsjurist. Er arbeitete unter anderem für die Private-Equity-Firma Permira und den Arznei-Hersteller Fresenius Kabi. "Ich führe das operative Geschäft und stimme mich mit Herrn Näder regelmäßig ab", sagt der gebürtige Kölner über die Zusammenarbeit. "Wir sind auch in fast allen Fällen einer Meinung - und wenn nicht, finden wir einen Weg."

Philipp Schulte-Noelle ist seit August 2018 in der Geschäftsführung von Ottobock und Mitglied des Verwaltungsrats. (Foto: Ottobock)

Christoph Schalast lehrt an der Frankfurt School of Finance & Management. Er bezeichnet den möglichen Börsengang von Ottobock als atypisch: Zum einen, weil es ein Familienunternehmen mit langer Geschichte und einem eher exzentrischen Gesellschafter ist, da sei jener Schritt ungewöhnlich. Zum anderen, weil es bereits den Versuch eines Börsengangs gab, der aber abgesagt wurde. Dass man stattdessen EQT dazu genommen habe, habe Ottobock sehr gut getan. Das zeige, wie ein großer, traditioneller Mittelständler erfolgreich mit einer Private-Equity-Firma zusammenarbeiten könne, ohne gleich von ihr übernommen zu werden, sagt Schalast. Durch den Fokus auf Exoskelette und neue Technologien sei das Unternehmen zudem "zukunftsfähig aufgestellt".

Digital attraktiv werden

Für jeden Börsengang braucht es auch eine gute Geschichte. Und erzählen können die Duderstädter gut und viel, in den sozialen Netzwerken etwa und über Markenbotschafter wie den Leichtathleten Heinrich Popow. Als Sponsor der Paralympics repariert und wartet Ottobock die Sportgeräte und Prothesen der Teilnehmenden. Im Bereich "Patient Care" versorgt das Team am Firmensitz libysche Bürgerkriegsversehrte, bezahlt von deren Botschaft. Weltweit haben Menschen in vielen Ländern Zugang zu den Hilfsmitteln aus der niedersächsischen Provinz.

Dazu zählen auch Orthesen, die Muskeln und Gelenke von außen unterstützen, etwa bei Lähmungen nach einem Schlaganfall, Multipler Sklerose oder Cerebralparese - Diagnosen, von denen jährlich Hunderttausende allein in Deutschland betroffen sind. "Wir erwarten Wachstumswellen, je mehr Krankheitsbilder wir bedienen können", sagt Schulte-Noelle. "Deswegen möchten wir näher an unsere Patienten herankommen: Wenn wir deren Bedürfnisse noch besser verstehen können, können wir das in unseren Entwicklungen umsetzen." Die meisten jener Patienten werden nie geheilt. Wer sie versorgt, macht das meist für den Rest ihres Lebens.

All die Innovationen kosten allerdings viel Geld. Die Kunden von Ottobocks Medizinsparte sind Sanitätshäuser, nicht die Endanwender. So innovativ die Produkte sein mögen: Was die Krankenkasse bezahlt, ist in der Regel nicht das Allerneueste auf dem Markt. Sieben Prozent des Umsatzes steckt der Mittelständler in Forschung und Entwicklung - und geht damit in Vorleistung mit dem Ziel, in den Erstattungskatalog der Kassen zu kommen. Das kann je nach Produkt Jahre dauern.

Auch deswegen sind die Exoskelette wichtig: Sie gehen im Direktvertrieb an die Unternehmen und sind keine Medizinprodukte, sondern gelten als Maschinen. Bis zu 6000 Euro kostet ein Stützsystem. Die Summe amortisiert sich innerhalb von zwölf Monaten, wenn Arbeiter seltener ausfallen und Produktionsverluste sinken.

Der digitale Weg ist für das Familienunternehmen noch aus einem anderen Grund wichtig. Duderstadt ist zwar hübsch, aber strukturschwach. Ottobock ist in der Region ein beliebter Arbeitgeber, doch merkt man auch dort, dass manches Berufsbild uncool wirkt, wenn es zu sehr nach Handwerk klingt. Wer Orthopädietechniker werden will, lässt sich mit einem 3D-Drucker vielleicht eher locken als mit der Arbeit im Gipsraum.

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