Inflation:Der Reallohnschock zeigt, wie schnell Einkommen schrumpfen kann

Inflation

Die Bundesbürger können in diesem Jahr nicht so viel Geld ausgeben.

(Foto: Jens Kalaene/picture alliance/dpa)

Die hohe Inflation drückt 2021 die Einkommen der Deutschen ins Minus. Kommendes Jahr sieht es besser aus - aber nur, wenn Politiker und Gewerkschafter das Richtige tun.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Nun ist es offiziell. Die ersten Berechnungen zeigen, was viele Bürger vermuten: Die Tariflöhne steigen in diesem Jahr nur gut halb so stark wie die Verbraucherpreise. Die Deutschen können sich weniger kaufen als vorher. Im Durchschnitt schrumpft das Einkommen real, also nach Inflation, um 1,4 Prozent. Durchschnittsverdiener haben aufs Jahr gerechnet fast 700 Euro brutto weniger Kaufkraft. Das schockiert. In den zehn Jahren zuvor lagen die Reallöhne im Schnitt bei je plus 1,4 Prozent. Aus diesem Absturz folgt einiges - für Politiker, Gewerkschafter und Notenbanker.

Zunächst stimmt es, dass man den Absturz relativieren muss. Zum einen haben die Gewerkschaften oft Corona-Prämien ausgehandelt. Da Arbeitnehmer darauf keine Steuern und Abgaben zahlen, fällt der Verlust an Kaufkraft etwas geringer aus.

Zum zweiten schrumpft die Kaufkraft wahrscheinlich nur vorübergehend. Denn die Inflation ist dieses Jahr wegen Sondereinflüssen so hoch, die es 2022 so nicht geben wird: Die Mehrwertsteuer wurde auf Normalmaß erhöht. Und es gibt nach der Corona-Rezession - wie nach früheren Wirtschaftskrisen - Nachholeffekte, die die Preise temporär hochtreiben. Es spricht viel dafür, dass die Inflation wieder auf rund zwei Prozent fällt, wie viele Forscher voraussagen.

Doch wie man es dreht und wendet: In diesem Jahr erleiden die Deutschen Verluste. Und das nach einer Corona-Rezession, in der Millionen um ihren Job fürchteten. Oder ihn durch Kurzarbeit retteten, aber weniger Einkommen hatten. Da schmerzt der diesjährige Verlust an Kaufkraft. Dieser Reallohnschock zeigt zweierlei: Es kommt sehr darauf an, dass Arbeitnehmer starke Interessenvertretungen haben. Und zentrale gesellschaftliche Akteure sollten überlegt handeln, damit die Inflation wirklich nur temporär hoch ist.

Der Reallohnschock 2021 zeigt den Deutschen, wie schnell Einkommen schrumpfen kann. Deshalb muss der Lohn vor Preiseffekten möglichst hoch ausfallen. Dabei hat sich die Lage für viele Bürger in den vergangenen Dekaden verschlechtert. Zum einen verbreiten sich Niedriglöhne. Zum anderen zahlen nur noch halb so viele Firmen nach Tarif wie in den 1990er-Jahren. Wer aber kein gewerkschaftlich ausgehandeltes Gehalt bekommt, verdient in der Regel deutlich weniger.

Mit dem Mindestlohn haben Millionen Bürger mehr zum Leben

Daraus folgt mehrerlei. Erstens sollte sich Bundeskanzler Olaf Scholz nicht vom Wehklagen der Wirtschaft beeindrucken lassen - und den Mindestlohn wie geplant auf zwölf Euro die Stunde erhöhen. Damit hätten zehn Millionen Beschäftigte und deren Familien mehr Geld zum Leben.

Zweitens sollte die neue Regierung Tarifverträge stärken. Dass früher die große Mehrheit der Beschäftigten nach Tarif bezahlt wurde, war ein zentraler Grund dafür, warum die deutsche Mittelschicht breiter war als in Italien oder Großbritannien. Seither ist die Mitte hierzulande geschrumpft, gesellschaftlicher Aufstieg wurde schwieriger. Olaf Scholz sendet daher das richtige Signal, wenn er staatliche Aufträge nur noch an Firmen vergeben will, die nach Tarif zahlen. Das ist ein Anfang. Man darf hoffen, dass dem ersten SPD-Kanzler nach 16 Jahren CDU-Unternehmerfreundlichkeit noch mehr einfällt.

Für die Beschäftigten ist es aber natürlich auch entscheidend, wie sich die Inflation weiterentwickelt. Die ansehnlichste Lohnerhöhung bringt wenig, wenn Preise sie auffressen. Hier kommt der Europäischen Zentralbank wie den Gewerkschaften eine wichtige Rolle zu. Die lockere Geldpolitik der EZB ist zwar nicht die Ursache der aktuellen Inflation. Trotzdem sollte sie ihre Geldpolitik langsam normalisieren, damit sich keine Inflationstendenzen verstetigen.

Die Gewerkschaften haben einen schwierigen Spagat vor sich: Für die Mitglieder ordentliche Lohnerhöhungen herausholen - aber nicht durch übertriebene Abschlüsse wie in den 1970er-Jahren die Inflation anheizen. Die gute Nachricht: Verdi oder die IG BCE agieren bisher maßvoll. Damit könnte es bei einem Vorteil bleiben, den der Standort Deutschland im internationalen Vergleich seit Langem genießt: Vernünftigen Gewerkschaften, die meist das Wohl der ganzen Gesellschaft im Blick haben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: