Berliner Ensemble:Ich, durchaus verbesserlich

Berliner Ensemble: Wie sehen mich die anderen? Und könnte ich auch ein ganz anderer sein? Der Ich-Erzähler (Matthias Brandt) probiert sich aus.

Wie sehen mich die anderen? Und könnte ich auch ein ganz anderer sein? Der Ich-Erzähler (Matthias Brandt) probiert sich aus.

(Foto: Christian Behring/imago images/Future Image)

Matthias Brandt brilliert in einem Solo am Berliner Ensemble als Max Frischs "Gantenbein".

Von Peter Laudenbach

Das geht natürlich gar nicht, nicht in Zeiten von Wokeness, Feminismus und Repräsentationskritik: Ein mittelalter Mann aus dem gehobenen Bürgertum, der sich einen ganzen Roman lang, oder für die Dauer eines Theaterabends, nur für sich selbst interessiert. Der Rest der Welt, seine Geliebte, überhaupt "die Frauen" dienen dabei vor allem als Spiegel der eigenen, schwer von sich selbst faszinierten Person. Andererseits geht das natürlich ganz hervorragend, zumindest wenn man Romane nicht mit Leit- und Leidartikeln verwechselt und von Theateraufführungen nicht in erster Linie Gesinnungsdemonstrationen verlangt. Das macht den Blick frei, zum Beispiel für die eigene Wahrheit eines Kunstwerkes und die Widersprüche und Ambivalenzen seiner Figuren.

Genau diese Ambivalenzen auszuloten gelingt dem Schauspieler Matthias Brandt und seinem Regisseur Oliver Reese jetzt am Berliner Ensemble mit einer furiosen, nuancenreichen Erkundung von Max Frischs Identitätsfragezeichen-Roman "Mein Name sei Gantenbein". Der Solo-Abend für einen hochkonzentrierten Matthias Brandt, der hier zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten wieder Theater spielt, ist nicht weniger als die Neu- und Wiederentdeckung des vor knapp 60 Jahren erschienenen Romans. Diese 300 Seiten lange, dichte Selbstbefragung eines alternden Ich-Erzählers, der noch mal in vielen Variationen die verpassten Möglichkeiten des eigenen Lebens durchspielt, ein einziges Was-wäre-wenn mit dem wiederkehrenden Mantra "ich stelle mir vor ...", ist natürlich auch die Erkundung eines Krisengebiets zerbröselnder Männlichkeit.

Was wir für Identität halten, ist nicht viel mehr als eine große Behauptung

Brandt schenkt diesem Ich-Erzähler mit immer wieder leise durchschimmernder, durchaus melancholischer Selbstironie eine verführerische Lässigkeit, manchmal auch einen Jean-Gabin-Stoizismus, den nichts mehr erschüttern kann. Aber weil keine seiner Rollen, egal ob als Ehemann oder als Liebhaber, als Weltmann oder als Züricher Bürger, wirklich trägt, kann er mit diesen Rollen nur spielen. Wenn ihm jede Gewissheit entgleitet, ist alles, was er gerade für sein Leben hält, nur eine von unzähligen Möglichkeiten. Niklas Luhmann hat für die Person, die sich von der Außenwelt mit den unterschiedlichsten Wahrnehmungen und Ansprüchen konfrontiert sieht, den schönen Ausdruck der "Erwartungscollage" erfunden: Was wir für unsere Identität halten, ist nicht viel mehr als eine aus lose miteinander verbundenen, wechselnden sozialen Rollen zusammengesetzte Behauptung.

Das radikalisiert Frischs Ich-Erzähler, wenn er sich ständig neu erfindet, zum Beispiel als Gantenbein, der sich versuchsweise, und um die anderen besser beobachten zu können, blind stellt. Was wäre, wenn Gantenbeins Geliebte untreu wäre, oder wenn sie keine berühmte Schauspielerin, sondern zum Beispiel eine Wissenschaftlerin wäre? Und weshalb sollte die eine Variante wahrscheinlicher, gar realer sein als eine andere? Das soziale Leben rutscht in den Konjunktiv und wird zum Theaterspiel, am Rand der Farce der ewigen Rollenwechsel: Wie könnten mich die anderen sehen? Und könnte ich in ihren Augen vielleicht auch ein ganz anderer sein? Und ist das, was ich als meine Person behaupte, nur eine Erfindung von sehr begrenzter Haltbarkeit? Weil der Roman ein einziges mäanderndes Selbstgespräch, ein Blick in unzählige zerbrochene Spiegelbilder ist, wirkt Reeses Entscheidung, ihn nicht als Ensemblestück, sondern als Monolog für Matthias Brandt zu inszenieren, sehr einleuchtend.

Matthias Brandt spielt frei von verschwitzter Testosteron-Selbstqual-Wichtigtuerei

Mehr braucht es nicht für einen faszinierenden Theaterabend: einen guten Schauspieler, ein literarisches Werk, das einige prinzipielle Fragen stellt, und einen Regisseur, der genau hinhört. Wobei, Monolog ist nicht ganz die richtige Genrebezeichnung, Brandt spricht sich ja eben nicht als ein unverwechselbares Ich aus. Im Gegenteil, er testet versuchsweise verschiedene Fassungen seiner selbst aus: "Ich probiere Geschichten an wie Kleider", lautet einer der Kernsätze des Abends. Logisch, dass sich das für Theater-Scherze nutzen lässt, wenn diese Rollenkleider nicht immer passgenau sitzen und zum Beispiel an Gantenbeins Hemdsärmel die Manschettenknöpfe fehlen.

Berliner Ensemble: Matthias Brandt spielt den Identitätswechsler leichtfüßig, fast tänzerisch (Bühne: Hansjörg Hartung).

Matthias Brandt spielt den Identitätswechsler leichtfüßig, fast tänzerisch (Bühne: Hansjörg Hartung).

(Foto: Matthias Horn)

Matthias Brandt, sozusagen das Paradox eines introvertierten Schauspielers, dem man im Spiel immer auch beim Denken, beim In-sich-Hineinhorchen zuzusehen glaubt, spielt diese probeweisen Figurenwechsel ganz leichtfüßig, manchmal fast tänzerisch, immer grundiert mit etwas verwundertem Staunen, als könne er das alles nur begrenzt ernst nehmen: Ach, das könnte ich also auch sein, erstaunlich. Das ist frei von verschwitzter Testosteron-Selbstqual-Wichtigtuerei und hat bei aller Ernsthaftigkeit jeder neuen Möglichkeits- und Rollenerkundung immer etwas von der unsentimentalen Leichtigkeit, mit der Brandt die nicht mehr benötigte Anzugjacke oder die Blindenbrille abschüttelt und von der Bühne fallen lässt, bereit für das das nächste Gedankenexperiment mit dem eigenen Ich.

Natürlich macht sich die Inszenierung auch über einige der bei Frisch bemerkenswert robusten Geschlechterklischees lustig, in denen Männer gerne nachdenklich und überlegen ihre Pfeife stopfen und Frauen vor allem flatterhaft und rätselhaft, dafür aber im Besitz "sinnlicher" Lippen sind. Bei Brandt wird Frischs coole Männlichkeit auch mal zur erotisch nimmersatten Witzfigur, etwa wenn er auf dem Krankenbett zappelt, im Angesicht des nahendem Todes könne er nur an "Schöße", und zwar an "alle Schöße", denken. Großer Spaß. Das Identitätsspiel kann bei aller Abgründigkeit sehr komisch werden, etwa wenn sein eifersüchtiger Gantenbein heimlich und zunehmend empört die Liebesbriefe liest, die seine Geliebte in einer Schublade versteckt: "Ekstasen-Depeschen! Einfach langweilig! Lebenskitsch!" Erst kurz nach dem Wutanfall entdeckt er, dass es seine eigenen Liebesbriefe sind. Nicht mal im Rasen der Eifersucht ist auf die eigene unverwechselbare Identität Verlass.

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