Gottesdienst nach Missbrauchsgutachten:Gläubige halten ihrer Kirche eine Predigt

Gottesdienst nach Missbrauchsgutachten: Der Priester als Zuhörer: Wolfgang Rothe ließ am Sonntag die Laien zu Wort kommen und verzichtete dafür auf die Predigt.

Der Priester als Zuhörer: Wolfgang Rothe ließ am Sonntag die Laien zu Wort kommen und verzichtete dafür auf die Predigt.

(Foto: Catherina Hess)

Nach dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche überlässt Priester Wolfgang Rothe im Gottesdienst den Gemeindemitgliedern das Wort. Sie werden dabei recht deutlich.

Von Andrea Schlaier

"Dieser Weg führt ins Nichts,/ und wir finden nicht das Glück,/ graben unsre eignen Gräber,/ geben selber uns den Tod." Das Eingangslied ist noch keine 20 Minuten verklungen, als die Frau mit den langen blonden Haaren ans Mikrophon tritt, das eben vor die Stufen zum einsamen Altar gestellt wurde. In ihrem Rücken hängt vor nachtblauen Sternen-Bannern ein monumentales Kruzifix mit dem Gekreuzigten.

So viel sei in den vergangenen Wochen betrachtet worden, hebt sie an: dass sich die Kirche im Zustand der Hilflosigkeit befinde, sich selbst auflöse, Entschuldigungen seien gesucht worden, in Rechtfertigungen habe man sich verstrickt. "Ich bin erstaunt, wie wenig bisher die Opfer in den Blick genommen werden. Und das macht mich richtig wütend!" Jetzt gehe es darum, als Gemeinde Mitmenschlichkeit zu zeigen, "vor allen Dingen mit den Opfern; die müssen eine Stimme erhalten, die müssen von uns getröstet, in ihrem Schmerz erkannt werden. Das ist die Form von Kirche, die ich mir wünsche."

"Es gibt so viel, was momentan aufwühlt, und das muss zur Sprache kommen", sagt Rothe

Der Applaus überspült ihre letzten Worte. Im Kirchenraum von Verklärung Christi in Ramersdorf, einem brutalistischen Bau aus den 1970er-Jahren, sind für Corona-Verhältnisse sehr viele blaue Holzstühle, die sich um den Altar reihen, besetzt. An der Seite sitzt Wolfgang Rothe ganz vorne in schwarzer Hose, schwarzem Sakko und weißem Kragen im schwarzen Hemd.

Der Priester hat kurz zuvor seine Soutane in der Sakristei abgelegt, die Gottesdienstordnung radikal geändert und diesmal auf eine eigene Predigt verzichtet. "Sie sind die heutigen Prediger", rief Rothe seinen Gemeindemitgliedern zu. "Sie können aussprechen, was Sie bewegt, angesichts des Missbrauchsskandals, angesichts all dessen, was uns als Christen bedrückt, angesichts des Outings von über hundert Menschen, die in unserer katholischen Kirche mitarbeiten. Es gibt so viel, was momentan aufwühlt, und das muss zur Sprache kommen."

Rothe ist nicht nur selbst ein höchst engagierter Streiter, der die Stimme erhebt bei der Aufklärung von Missbrauch, ein Reformer, der gegen die Diskriminierung von Frauen, Geschiedenen und Homosexuellen in seiner Institution kämpft, er hat auch in seiner Gemeinde couragierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Auch prominente.

Gottesdienst nach Missbrauchsgutachten: In der Kirche gehe es nicht um Sexualität, sondern "um Verantwortung und Liebe", sagt Gertraud Burkert.

In der Kirche gehe es nicht um Sexualität, sondern "um Verantwortung und Liebe", sagt Gertraud Burkert.

(Foto: Catherina Hess)

Gertraud Burkert gehört auch dazu. Die ehemalige Zweite Bürgermeisterin der Landeshauptstadt spricht am Mikrophon davon, "dass Kirche ein Männerbund ist". Die Institution müsse ihre Machtstrukturen ändern, sich öffnen, auch für Laien und Frauen, denen auch Weiheämter nicht länger versagt bleiben sollten. Es gehe in der Kirche nicht in erster Linie um Sexualität, sondern um "Verantwortung und Liebe".

Ein Redner plädiert für "demokratische Kontrollgremien"

Nach ihr führt Diakon Wolfgang Dausch, der in einer Ordensgemeinschaft arbeitet, leidenschaftlich Klage: "Ich habe seit 20 Jahren mit dem Thema Missbrauch zu tun, ich war vielleicht zu loyal die ganze Zeit, habe nicht aufgemuckt." Er wolle nicht mehr "bei so einem System mitmachen! Ich will jetzt auch persönlich aufmucken".

Klare Ansagen hat Priester Rothe bereits in der Einleitung zu den Fürbitten des vorangegangen Kurz-Gottesdienstes gemacht: "Lasst uns angesichts des Totalversagens unserer Kirche und vieler ihrer Verantwortungsträger unsere Enttäuschung, unsere Verzweiflung und unseren Zorn vor Gott bringen und beten..." Alle nimmt er in seine Bitten mit auf, zu allererst die, die Leid an "Seele und Leib" erlitten haben, die, "die in unserer Kirche aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung gedemütigt und diskriminiert werden" und "alle, deren Leben durch Missbrauch zerstört wurde oder infolge von Missbrauch Suizid begangen haben...".

Gottesdienst nach Missbrauchsgutachten: "Wir sind alle Kirche, das ist der Weg", sagt Georg Meyer-Berg. Die Institution solle transparent werden.

"Wir sind alle Kirche, das ist der Weg", sagt Georg Meyer-Berg. Die Institution solle transparent werden.

(Foto: Catherina Hess)

Georg Meyer-Berg ist Kirchenpfleger in Verklärung Christi und Betriebsrat eines großen Unternehmens, er liefert vor dem Altar gleich eine Handlungsempfehlung: "Ich plädiere dafür, die gesamten Kirchen demokratischen Kontrollgremien zu unterziehen." Die Institution sollte transparent und "beteiligungsorientiert" sein, "wir alle sind Kirche, das ist der Weg".

Brigitte Czerny, Pfarrgemeinderätin, spannt den Bogen weiter: "Wir reden hier von 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern - und das ist nur das Erzbistum München und Freising. Wie viele verwundete Seelen sind denn da noch draußen?", in Bayern, Deutschland, Europa, dem Vatikan, der Weltkirche. Katrin Richthofer, Mitbegründerin der Münchner-Gruppe von Maria 2.0., rät zum Versuch, aus dem "Riesenscherbenhaufen" wieder etwas zusammenzubauen.

Gottesdienst nach Missbrauchsgutachten: Katrin Richthofer will, dass aus dem "Riesenscherbenhaufen" wieder etwas entsteht.

Katrin Richthofer will, dass aus dem "Riesenscherbenhaufen" wieder etwas entsteht.

(Foto: Catherina Hess)

Jeder, der sich an diesem Sonntagmorgen vortraut, wird reich mit Applaus bedacht. Auch Wolfgang Rothe, der den Anfang und mit sorgsamem Blick in die Gemeindereihen den Schluss macht: "Danke für diese Predigt. Amen."

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