Neues Album von "Big Thief":Wenn ich eine Wolke wär'

Lesezeit: 4 min

"Wir rasen durch den Weltraum wie ein Strom von Morgengänsen": Adrianne Lenker und ihre Band "Big Thief". (Foto: 4AD)

Lärmender Indie-Rock, staubig süßer Country: Was Adrienne Lenker über das neue Album ihrer Band "Big Thief", ihren Hund und Sternenstaub erzählt.

Von Juliane Liebert

Big Thief schreiben keine typischen Hits. Was beim Hören zuerst hängen bleibt, ist ihr Soundprofil. Adrianne Lenkers charakteristische Stimme, eine eigentümliche Wärme, die nichts von der Instantgemütlichkeit des beliebten Folk-Pop hat, sondern ganz körperlich wirkt, wie gerade in diesem Moment von einem lebendigen Wesen ausgestrahlt. Das nächste, was man bemerkt, ist ihre Gelassenheit. Sie spielen, als seien sie ganz sicher, dass sie etwas Sinnvolles tun. Aber nicht so, als würde ihnen das einfach in den Schoß fallen, sondern als würden sie wirklich so lange arbeiten, bis etwas dabei herauskommt, das von allein atmet und keine künstlichen Effekte, kein Getue braucht.

"Dragon New Warm Mountain I Believe in You" ist ihr fünftes Studioalbum. Adrianne Lenker, die Sängerin, kommt zum Zoom-Interview direkt von der Straße, sie ist mit ihrem Bruder drei Tage mit dem Auto von Minneapolis gefahren, oder vielleicht war sie da vorher oder will da erst hin. Sie ist wegen ihres Hundes mit dem Auto gefahren, sagt sie. Der Hund heißt Oto. Mag er ihre Musik? "Ich glaube schon. Er ist sehr an meine Musik gewöhnt. Er ist auf Reisen, seit er ein kleiner Baby-Puffy war. Er war auf Tour und er war im Studio, als ich ihn bekommen habe, war er sofort mit uns im Aufnahmestudio. Als wir das neue Album aufgenommen haben."

Unsterblich sein? Da will sie erst einmal genau wissen, wie sie sich das vorstellen soll

Sie spricht leise und ruhig. Mit großer Ernsthaftigkeit. Das Album eröffnet mit "Change". Es ist einer jener Songs, die scheinbar schon immer existieren und nur auf jemanden gewartet haben, der sie aus dem Musikurgestein herauskratzt. Er handelt von der Last der Unsterblichkeit - nicht weniger als das! - und der Notwendigkeit des Wandels, um lebendig zu bleiben. Immerhin gibt er dem Hörer Mitspracherecht. "Would you live forever, never die / While everything around passes? / Would you smile forever, never cry / While everything you know passes?", singt Lenker im Song. Würde sie selbst denn unsterblich sein wollen?

Sie streicht sich durch die sehr kurzen Haare, als sei sie die noch nicht richtig gewöhnt. Und will die Konditionen wissen. "Ich würde als Mensch nicht unsterblich sein wollen. Nicht in dieser Form, denn das fände ich sehr traurig, wenn nicht jeder unsterblich wäre. Aber wenn jeder unsterblich wäre, gäbe es dann eine Geburt? Würde es Großeltern geben? Gäbe es Kinder? Wie würde das funktionieren?" Wenn überhaupt, würde sie als der Ozean oder der Himmel oder Sternenstaub unsterblich sein wollen. Auch damit, ein Wald oder Wolken zu sein, könnte sie sich arrangieren, sagt sie.

Dafür, dass ihre Sängerin gerne Sternenstaub wäre, haben Big Thief einen hohen Output. 2019 erschienen gleich zwei Alben. 2020 Adrianne Lenkers gerühmtes Soloalbum, 2021 eine Live-EP. "Nebenbei" haben sie ihr neues Album aufgenommen - ein Doppelalbum. "Dragon New Warm Moun­tain I Belie­ve In You" enthielt ursprünglich fast 50 Songs. Jetzt sind es "nur noch" 20. Manchmal wandeln sie dicht am Format-Indie oder Countryfolk-Genudel, aber dafür kann man Songs wie "Certainty" fast unbegrenzt oft nacheinander hören, bis die Zeit anhält und man weint. Vor Glück, versteht sich.

"Dragon New Warm Mountain I Believe in You" von Big Thief. (Foto: N/A)

Vielleicht hätte eine rigorosere Ideenauslese ein noch dichteres Album ergeben. Andererseits braucht gerade diese Band Raum, um zu eben jener Gelassenheit zu finden, die ihren unverwechselbaren Klang erst ermöglich. Es lässt sich als Stärke des Albums "Dragon New Warm Mountain ..." begreifen, dass es diesen Prozess abbildet. Obwohl - oder gerade weil - Big Thief auf technologischen Firlefanz verzichten, auf traditionelle Instrumente vertrauen und tief in der amerikanischen Formensprache verwurzelt sind, ist ihre musikalische Bandbreite groß. Manchmal öffnen sie mit federhallenden E-Gitarren die Bühne, dann kommt wieder eine ganz intime, etwas verrauschte Akustikgitarrenskizze. Auf lärmenden Indierock folgt staubig-süßer Country.

Aufgenommen wurde bewusst an ganz verschiedenen Orten, von Upstate New York bis Kalifornien, mit verschiedenen Toningenieuren und jeweils eigenen Klangkonzepten. Schlagzeuger James Krivchenia entwickelte diesen Ansatz, um das gesamte Spektrum von Adrienne Lenkers Songwriting abzubilden. Das scheint gelungen. Um den Preis eines etwas inhomogenen Gesamtbildes, aber mit einem Gewinn an Vielschichtigkeit.

Manche ihrer Songs befördern einen tatsächlich in die Ewigkeit, andere finden das Magische im Banalen. Der titelgebende Track "Dragon New ..." könnte davon handeln, wie (laut Lyrics) "eine Milliarde Planeten geboren werden" - oder aber von einem besonders angenehmen Telefonat: "There's a dragon in thе phone line / Coughing up a mighty flame / With a tonguе of silver, silver / Calling out my oldest name." Da sage noch einer, Smartphones seien weniger als transzendental!

Hauptsache, das Interesse an Süßigkeiten hat unter dem Erwachsenwerden nicht gelitten

Die Sängerin lacht. "Oh, wow. Ein Anruf! Ich mag diese Beschreibung wirklich. Manchmal ist ein nettes Telefonat mit einem Freund so schön, dass man wieder an die Schönheit des Lebens zu glauben beginnt. Ich erinnere mich, dass ich als Kind wirklich sicher war, dass Magie existiert. Das hier ist Magie. Irgendwie ist unser Sonnensystem so verteilt, dass die Erde mit Leben darauf existieren kann. Und wir rasen durch den Weltraum wie ein Strom von Morgengänsen. Haben Sie schonmal Gänse im Sonnenuntergang beobachtet? Wir müssten diese Dinge nicht als schön empfinden. Aber irgendetwas an ihnen ist es."

Als sie ein Kind war, erzählt sie, dachte sie immer, dass sie niemals erwachsen werden und aufhören will, an Magie zu glauben und Süßigkeiten zu essen. "Ich hatte solche Angst, dass alle Erwachsenen um mich herum sich nicht für Süßigkeiten interessierten, und ich dachte: ,Was? Ich werde mich nie nicht für Süßigkeiten interessieren.'" Sie hat Wort gehalten.

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