"Jeen-Yuhs" bei Netflix:"Cayenne möchte sie gern sprechen"

"Jeen-Yuhs" bei Netflix: Zahnspangenträger a. D.: Kanye West.

Zahnspangenträger a. D.: Kanye West.

(Foto: Netflix)

Eine Doku-Trilogie zeigt den Rap-Milliardär und Vollzeit-Megalomanen Kanye West als Bittsteller und grandiose Wurst.

Von Jakob Biazza

Da ist zum Beispiel die Sache mit der Zahnspange. Eines dieser scheußlichen, losen Dinger, die Anfang der Neunziger alle in ihren grindigen Transportboxen zur Übernachtungsparty mitgebracht haben. Gaumenfarbenes Plastik, schlieriges Gespeichel beim Herausnehmen. Man kann sich als zukünftiger Rap-Superstar bei Glamouröserem filmen lassen als dem Versuch, so ein Ding aus dem Mund zu fummeln.

Andererseits, so dürfte sich das für Kanye West zu dieser Zeit womöglich angefühlt haben, hat er aber auch wenig zu verlieren. Er fährt sich in den Büros von Roc-a-Fella Records, seinem späteren (sehr viel späteren) Label, jetzt also mit geübter, flüssiger Bewegung zwischen die Zähne, schlenzt das Teil raus, hält es kurz und wirklich sehr lässig in die Luft und spricht diesen mindestens ultracoolen Satz: "I gotta take these out in order to rap." Ich muss die rausnehmen, um rappen zu können.

So war das damals, Anfang der Nullerjahre: Wer das nächste große Ding im Hip-Hop werden wollte, brauchte einen ungehinderten Rap-Flow. Gerade Zähne wurden aber auch immer wichtiger.

In der ersten Folge: quasi ausschließlich Bilder von Niederschlägen und Demütigungen

Kanyes Vorsingen bei der Plattenfirma könnte, nein müsste, also womöglich eine dieser Hollywood-pathetischen Szenen sein: Heldenwerdung vor Publikum. Bedeutungsmoment über ergreifendem Orchesterstreich. Vielleicht sogar Zeitlupeneinstellungen. Es gibt allerdings keine Hollywood-pathetischen Szenen in "Jeen-Yuhs", dieser zumindest im Ansatz doch erstaunlichen Doku über den Rapper und Produzenten Kanye West. Jedenfalls nicht im ersten Teil der Trilogie, den Netflix vorab zur Sichtung angeboten hat. Genau das macht die Aufnahmen so grandios: Sie kommen über weitere Strecken ohne Off-Kommentare aus und sind ausschließlich Dokumente von krachendem Scheitern, von Niederschlägen und Demütigungen.

Der spätere Platten-, Sneaker-, Streamingdienst-, Sonst-was-Milliardär West rappt in der beschriebenen Sequenz ja nicht mal in den Chefbüros. Nicht vor den Labelgründern Jay-Z, Damon "Dame" Dash oder Kareem "Biggs" Burke. Er steht - unangekündigt, sweatshirtharmlos, dreivierteltrottelig - in den Zimmern von Assistentinnen und Marketing-Angestellten, um Songs als Rapper (und nicht nur Produzent) zu präsentieren. Was in etwa so sinnvoll ist, wie die Steuererklärung beim Hausmeister abzugeben. "Sie drehen eine Doku über mich", sagt er jedem, dem er auf dem Gang begegnet.

Der spätere Vollzeit-Megalomane als Bittsteller und recht grandiose Teilzeit-Wurst.

Am Ende der Szene sieht man West, wie er auf einer Rolltreppe wieder nach unten zum Ausgang fährt. Die Augen auf den Boden gerichtet. In der Hand ein kleiner Stapel Alben. Er war gekommen, um das Label davon zu überzeugen, ihm endlich einen Plattenvertrag als Solokünstler zu geben. Mitgenommen hat er ein paar CDs. Eine davon ist "The Blueprint", das sechste Album von Jay-Z. West hat die Hälfte der Songs darauf produziert.

Wahnsinnig laut sprechende Bilder also. Was auch gleich die Frage beantwortet, warum, zum Teufel, es das brauchen sollte: eine weitere Doku über Kanye West. Es gibt schließlich keinen Winkel der an Winkeln wahrlich nicht armen Persönlichkeit des Künstlers, die er nicht schon selbst in den brüllendsten, grellsten Worten ausbuchstabiert hätte. Genau das ist aber der Punkt. Egal, was einer sagt, die Bilder sind eben immer stärker.

"Jeen-Yuhs" bei Netflix: "Sie drehen eine Doku über mich": Kanye West auf den Gängen von Roc-a-Fella Records, seiner späteren Plattenfirma.

"Sie drehen eine Doku über mich": Kanye West auf den Gängen von Roc-a-Fella Records, seiner späteren Plattenfirma.

(Foto: Netflix)

Und die Bilder, die Clarence "Coodie" Simmons und Chike Ozah - bekannt durch Musikvideos für Künstler wie Erykah Badu, Mos Def, Christina Aguilera, Rick Ross oder The Black Keys - liefern, sind brutal. Die Regisseure begleiten West seit 1998 mit der Kamera. Damals war er ein lediglich Experten bekannter Produzent. Vor allem Coodie spürte aber, sagt er aus dem Off, mehr hinter dem verschüchterten und rotzarroganten Auftreten. Den Drang des Groß-Egos. Aber eben auch das Genie (daher der Wortspiel-Titel), den Getriebenen, den Darstellungszwang, das Geltungsbewusstsein. Kurz: das Material zum späteren Superstar.

Was auch immer er nun genau spürte, der Sog war offenbar stark genug, damit Coodie seine eigene, eigentlich manierlich gestartete Karriere als Stand-up-Comedian aufgab, um West Vollzeit folgen zu können. "Überall hin", sagt man in diesem Fall gern. Auch dahin, wo es sehr weh tut. Hier könnte das tatsächlich mal zutreffen. Man sieht West, wie er Angestellte beim damaligen Musiksender MTV bezirzt, ihn in die Sendung "You Heard It First" zu lassen. Man sieht ihn am Empfang von Right Track Recording, einem New Yorker Studio: "Cayenne is here to see you", kündigt man ihn dort an. Cayenne möchte Sie gern sprechen.

Man sieht ihn bei Donda, seiner Mama. Gestorben 2007, an den Folgen einer Schönheitsoperation. Ihr hat er 2021 sein jüngstes Album gewidmet. Irre schöne Szenen: Familien-Seelenpause. Mutterstolz. Herzenswärme. Donda rappt Zeilen, die ihr Sohn vor Ewigkeiten geschrieben, aber nie veröffentlicht hat, fachsimpelt mit ihm über die MCs Jay-Z und Scarface, bewundert seine neue Halskette mit Engel-Anhänger. "You need an angel to watch over you", sagt sie.

Dann geht es aus der schummrigen Heimeligkeit wieder auf die Straße - und von Chicago wieder nach New York. Man sieht West, wie er ein Pornoheft kauft. Kostenpunkt: acht Dollar. Fokus: große Hintern. Man sieht ihn auf einer Party des Roc-a-Fella-Bosses Dame Dash. "Es ist zwei Uhr nachts, wir feiern meinen Geburtstag", sagt der. Kanye sei ein netter Kerl, sagt er. "Wir werden ihn unter Vertrag nehmen", sagt er auch noch. Aber auch hier sind die Bilder stärker: "Warum umschwirrt mich dieses Geschmeiß, wo ich doch gerade so herrlich prall bin", sagt sein Gesicht. Alle wollten sie damals Kanyes Beats. Als Rapper aber nahm ihn keiner ernst.

"Jeen-Yuhs" bei Netflix: Am Ende klappte es ja doch mit dem Plattenvertrag: West im Kostüm für das Cover seines Solo-Debüts "The College Dropout".

Am Ende klappte es ja doch mit dem Plattenvertrag: West im Kostüm für das Cover seines Solo-Debüts "The College Dropout".

(Foto: Netflix)

Eigentlich verrückt, dass diese Geschichte derart gut ausgegangen ist. Kommerziell zumindest. Das mit der Seele ist ja noch mal eine andere Frage. Gleich zu Beginn von Folge eins sieht man den Rap-Mogul Kanye West im Jahr 2020 in der Dominikanischen Republik. Er nimmt dort gerade Musik auf und koordiniert zwischendrin telefonisch Details zur Doku. Er trägt blaue Badeshorts und darüber eine massive Camouflage-Weste - grobe Militäranmutung, unzählige (leere) Taschen für Gewehrmagazine, ein Schlauch ragt aus dem Aufzug heraus. Flughöhe: General im Wüstenkrieg.

Noch so ein Bild: Kanye, der Kämpfer, der immer dann besonders unnachgiebig (und ja: auch nervig) wird, wenn er sich zurückgewiesen fühlt. Gerade beleidigt er auf Instagram wieder viele Menschen, unter anderem den Comedian Pete Davidson, dem man nachsagt, Kim Kardashian zu daten. West und Kardashian leben in Scheidung. Während des Super Bowl war West außerdem in einem Werbespot zu sehen. Er steuert da ein riesiges Fahrzeug durch einen Drive-in. Fox News hat recherchiert: ein russisches Fabrikat namens "The Sherp". 2,5 Tonnen, schafft eine Steigung von 35 Grad. Ein Amphibienfahrzeug außerdem. Topgeschwindigkeit auf dem Wasser: knapp sechs km/h. West soll zehn Stück davon besitzen. Sie sind für den normalen Straßenverkehr nicht zugelassen.

"Jeen-Yuhs", bei Netflix

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