Großbritannien:Gemalte Seelen

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Ein bewegender BBC-Dokumentarfilm zeigt, wie Künstlerinnen und Künstler sieben Holocaust-Überlebende porträtieren.

Von Michael Neudecker

Fünf Sekunden verbringt ein Museumsbesucher angeblich durchschnittlich vor einem Bild, ehe er weitergeht, aber fünf Sekunden sind ein Witz, wenn man vor dem Bild von Rachel Levy steht. Das Bild fängt einen, es lässt einen nicht mehr los. Das zerfurchte Gesicht dieser Frau. Die aufrechte Haltung. Und die Augen, vor allem die Augen. Die Augen von Rachel Levy haben mehr gesehen, als ein Mensch ertragen kann.

Rachel Levy hat den Holocaust überlebt, sie war im Konzentrationslager in Auschwitz. Den Vater hatten die Nazis schon vorher geholt, ihre Mutter und ihre drei kleinen Schwestern verlor sie nach der Ankunft an der Rampe. Als die Mutter begriff, was passierte, gab sie Rachel und ihrem Bruder einen Schubs auf die andere Seite, damit wenigstens sie eine Chance haben, zu leben. Als Rachel Levy 1988 zum ersten Mal über ihre Geschichte sprach, musste sie sich übergeben und brauchte ärztliche Hilfe, wie sie vor Kurzem der Times sagte.

Geschichten wie die ihre wurden immer wieder erzählt in den vergangenen Jahren, sie wurden verfilmt, in Büchern niedergeschrieben, aber sie werden weniger. Rachel Levy ist 91 Jahre alt, sie lebt in London und gehört zu den letzten noch lebenden Zeitzeugen des Holocaust. Nichts ersetzt die Erzählung in der ersten Person, und deshalb hat der britische Thronfolger Prinz Charles vor knapp zwei Jahren sieben Künstler damit beauftragt, sieben in Großbritannien lebende Holocaust-Überlebende zu porträtieren. "Survivors", Überlebende, so heißt das Projekt, das Ergebnis war bis vor ein paar Tagen in der Queen's Gallery in London zu sehen, den Ausstellungsräumen, in denen Stücke aus der königlichen Sammlung gezeigt werden. Nun zieht die Ausstellung um nach Edinburgh.

Dazu ist in der BBC ein sehenswerter, bewegender Film des erfahrenen Dokumentarfilmemachers Tom Hayward entstanden, der nun auf BBC World News gezeigt wird. Der Film zeigt die Entstehungsgeschichte der Bilder, wie sich die Künstler und die Porträtierten trotz erschwerten, pandemischen Bedingungen kennenlernten. "Er hat zu mir gesagt: Du malst noch meine Seele", erzählt Clara Drummond im Film. Sie hat Manfred Goldberg gemalt, den 91-Jährigen, der in Kassel geboren wurde und das Konzentrationslager Stutthof in Polen überlebte. "Ich dachte", fährt Clara Drummond fort, "naja, das wäre ein Traum". Die Seele dieser Menschen malen, ihre Persönlichkeit und ihre Geschichten so greifbar wie möglich darzustellen, das haben die Künstler tatsächlich versucht. "Das Feiern seiner Persönlichkeit und seines Lebens", so beschreibt das Clara Drummond.

Drummond, die in Edinburgh geboren wurde und später an der Royal Drawing School studierte, hat Manfred Goldberg mit nur vier Farben und Weiß gemalt, es ist ein helles, leuchtendes Bild. Sie wollte damit auch eine Verbindung herstellen zu einem anderen Bild: dem Porträt von Manfred Goldbergs Bruder Hermann, der im KZ verschwand, als er vier oder fünf Jahre alt war. Goldberg hat das Bild seines kleinen Bruders später mithilfe eines Fotos in Auftrag gegeben. Es ist jetzt der einzige Beweis, dass es ihn gegeben hat.

Die älteste Porträtierte ist 98 Jahre alt

Manfred Goldberg ist mit 16 in England angekommen, später hat er an der University of London Elektrotechnik studiert und seine Frau kennengelernt, mit der er seit 60 Jahren verheiratet ist. Die beiden haben vier Kinder und zwölf Enkel. "Unsere wundervolle Familie zu gründen", hat Goldberg der Times gesagt, "ist meine Rache an den Nazis."

Auch Rachel Levy hat in England geheiratet und Kinder bekommen. Sie wurde porträtiert von Stuart Pearson Wright, er ist im Vereinigten Königreich vor allem bekannt für seine Porträts des Schauspielers John Hurt und der Schriftstellerin Joanne K. Rowling. Ishbel Myerscough wiederum malte Lily Ebert, mit 98 Jahren die Älteste der Porträtierten. Lily Ebert war ebenfalls in Auschwitz, um den Hals trägt sie ein kleines, goldenes Amulett. Sie hat das Amulett von ihrer Mutter bekommen, als sie fünf war, im KZ hat sie es gerettet, indem es zuerst im Absatz ihres Schuhs vernagelt war. Später, als der Schuh nicht mehr hielt, hat sie das Amulett jeden Tag in ihre Brotration gesteckt.

Die 53-jährige Myerscough, die in Glasgow studierte und in London lebt, wollte das Amulett unbedingt zum Glänzen bringen, und weil das mit Farbe allein nicht wirklich geht, hat sie goldene Folie drauf geklebt. Dabei ist an einer Stelle die Folie etwas gerissen - genau dort, wo auch das Amulett den Abdruck des Nagels hat. Unbeabsichtigt, wie man auch im Film sehen kann.

Großbritannien hat, wie so viele Länder, lange gebraucht, um einen Umgang mit denen zu finden, die von den Nazis verfolgt wurden. Erst in den 1980ern wurde der Holocaust Educational Trust gegründet, dessen Ziel es unter anderem ist, dafür zu sorgen, dass die Geschichten der Menschen aus dieser Zeit nicht vergessen werden. "Wir schulden es diesen bemerkenswerten Menschen, an sie zu erinnern", sagt Charles im BBC-Film.

"Wir sind kostbare Ware", sagt Manfred Goldberg in einer anderen Szene. Er sitzt da neben Zigi Shipper, auch einem der im "Survivors"-Projekt Porträtierten. Goldberg und Shipper, noch so eine dieser bewegenden Geschichten, haben sich 1944 in einem Arbeitslager kennengelernt, später trafen sie sich wieder auf einem der sogenannten "Todesmärsche" von Stutthof nach Danzig. Goldberg trug den an Typhus Erkrankten damals, gemeinsam mit anderen. "Hättest du je gedacht, dass wir einmal hier sein werden, in unserem Alter?", sagt Zigi Shipper zu Goldberg. Er ist jetzt 92 und genau wie Manfred Goldberg noch immer so oft wie möglich unterwegs, in Schulen, aber auch bei Anlässen wie dem "Survivors"-Projekt, um über den Holocaust zu sprechen.

Das, sagt Zigi Shipper, müssten sie doch, unbedingt: "Erzählen, was uns passiert ist."

Survivors: Portraits of the Holocaust, BBC World News, am Samstag, 13.30 Uhr und Sonntag, 20.30 Uhr.

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