"Jessica - an Incarnation" an der Volksbühne:Sektenrituale in Feinrippunterwäsche

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Mit "Jessica - an Incarnation" hat Susanne Kennedy an der Berliner Volksbühne wieder einen ihrer Symboleintöpfe aus Sinnfragen angerührt.

Von Till Briegleb

Jessicas Verhältnis zu Gott ist getrübt durch die Zivilisation. Das Abendmahl vollzieht sie mit der E-Zigarette, der Abschied von den Jüngern und Jüngerinnen in Gethsemane verläuft so gechillt, dass nicht mal Soldaten auftauchen, um sie zu verhaften. Und auch die Fußwaschung Johns, ihrem erschöpftesten Partyjünger, bleibt bei diesem weiblichen Messias so routiniert und charismafrei, dass ihr Sekretär namens Jude sie fragt, ob die Szene nicht geskippt werden kann. Nein, diese Passionsgeschichte von Susanne Kennedy ist keine Erzählung, um ein neues Evangelium für die Schäflein des Cyberspace zu gründen. "Jessica - an Incarnation" an der Berliner Volksbühne ist einer dieser großen Symboleintöpfe aus Sinnfragen, wie die Regisseurin sie seit Jahren in immer neuen Anläufen zusammenrührt, zusammen mit ihrem Partner Markus Selg.

Die scheinbar so komplizierte Kernfrage von Kennedys Inszenieren, die sie in den computeranimierten Grafikwelten Selgs auf der Bühne, in Installationen und für die Virtual-Reality-Brille immer wieder stellt, ist diesmal besonders deutlich wiederholt: Was ist Realität, und was nicht? Eine Sekte in einem Tal der Toten möchte die Antwort auf dieses Wahrnehmungsproblem diesmal von dem regelmäßig reinkarnierten Medium "Jessica" erhalten, dessen Ursprung in den gnostischen Zeiten des Frühchristentums zu suchen ist, wo noch nicht entschieden war, ob der menschliche Körper und das irdische Leben nun ein Geschenk Gottes oder ein Fluch sind, den es zu überwinden gelte.

Willst du den Dämon in mir berühren?

Die Gruppe der Suchenden, deren Sektenuniform aus zerschnittenen Jeans, Feinrippunterwäsche und langen blonden Haaren besteht (Kostüme von der rumänischen Modedesignerin Andra Dumitrascu), blickt zum Zweck der Erkenntnis in einen virtuellen time tunnel. In dieser "Anamnesis" genannten Bilderrauschmaschine von Markus Selg morphen sich in wandernden Feuerringen Hunde, Katzen, Autos, zerbrochene Fernseher oder irgendwelche bunten Formen ineinander, blinken und blubbern, bis die Blonden weinen müssen. Dann stellen sie scheinbar bedeutsame Fragen, etwa: "Do you wanna ... mmm ... touch the demon inside me?" oder: "If all of this is just a representation? An illusion? Then: Why bother?"

Das Stück ist in Englisch, denn Sinnfragen sind schließlich so international wie der Dollar. Und keine der verschlafen nach Identität suchenden Modepuppen spricht sich selbst. Die Behauptung unüberwindlicher Geist-Körper-Distanz, die Susanne Kennedy als ein weiteres Leitthema seit ihren ersten groß beachteten Abenden mit Texten von Fassbinder oder Marieluise Fleißer an den Münchner Kammerspielen verfolgt, wird hier erneut unterstrichen. Die Darsteller formen mit den Mündern nach, was andere Stimmen aus den Lautsprechern vorlesen. Jessicas Körper ist also Suzan Boogaerdt, ihre Seele spricht Kasia Tórz, die beobachtende Journalistin teilt sich in Bianca van der Schoot und die Stimme von Kate Strong. Nur Benjamin Radjaipour als Sektenführer wird von der eigenen Tonaufnahme durch das Stück geführt. Alles sehr bedächtig sediert wie durch Drogen und auf einer meditativ sich drehenden Weltscheibe.

Der zweistündige Sinn-Rave (plus 20-minütiger Technikpanne bei der Premiere am Donnerstag) wirkt formal erstaunlich geschlossen für die extrem vielen Zutaten, die hier eingekocht werden. Tiktok als Ersatzreligion ist genauso Thema wie Assoziationen an die mordende Manson Family, apokryphe Bibeltexte genauso wie Tennissocken, oder die feine Unterscheidung von Prophezeiung und Propaganda. Der Ariadnepfad wird beschritten und modischer Immersions-Schamanismus praktiziert, Porno auf dem Handy angesehen und über das "esotherapeutische Geschwurbel" der Inszenierung gespottet. Eine Gottesanbeterin hat ebenso ihren Auftritt wie ein Gebet im Lotussitz.

Und dieser Trip auf dem "ontologischen Moebiusband", wie es in dem Text zu dieser Sammlung aus kulturgeschichtlichen Zitaten ohne Kontext heißt, könnte als Loop tatsächlich bis in alle Ewigkeit weiterlaufen. Was dann wohl die Hölle wäre, wie John (Adam Muhabbek mit der Stimme von Remo Joe Bittner) irgendwann treffend bemerkt. Aber davor behütet das Publikum die Bühnengewerkschaft, die Technikprobleme, die Corona-Regeln und ein gesundes Gespür für den Sinn des Lebens, der draußen in der Wirklichkeit wartet. Ganz einfach zu finden, und genauso kompliziert.

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