Osteuropa:In Gefahr geeint

Osteuropa: US-Soldaten in Polen: Die Kriegslage verschiebt die Verhältnisse auch zwischen Brüssel und den osteuropäischen Staaten.

US-Soldaten in Polen: Die Kriegslage verschiebt die Verhältnisse auch zwischen Brüssel und den osteuropäischen Staaten.

(Foto: Wojtek Radwanski/AFP)

Putins Krieg gegen die Ukraine lässt die inneren Konflikte der EU mit Ländern wie Polen und Ungarn verblassen. Darin liegt eine große Chance für die Zukunft.

Kommentar von Josef Kelnberger

Es ist noch nicht lange her, da musste sich der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Europaparlament den Vorwurf anhören, er sei vom selben autokratischen Kaliber wie Wladimir Putin. Das klang angesichts der polnisch-russischen Geschichte damals schon grenzwertig, heute würde man für diese Formulierung geächtet.

Niemand mehr spekuliert über einen vermeintlich zwangsläufigen Austritt Polens aus der EU, den "Polexit". Und wie plötzlich aus der Zeit gefallen wirkt eine von der großen Mehrheit des Europaparlaments getragene, kurz vor Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine formulierte Resolution, über die am Mittwoch in Straßburg fast verschämt abgestimmt wurde: Die Kommission möge endlich den neuen Rechtsstaatsmechanismus anwenden und den Regierungen in Polen und auch Ungarn das Geld kürzen - als Strafe dafür, dass die beiden Länder gegen fundamentale Werte der Europäischen Union verstoßen.

Wer in diesen Tagen nach Menschen sucht, die fundamentale europäische Werte vorleben, wird in Polen und Ungarn fündig. Sie nehmen Flüchtlinge mit überwältigender Mitmenschlichkeit auf, augenscheinlich unterstützt von ihren Regierungen. Den hohen europäischen Wert der Freiheitsliebe mag man beispielhaft im mutigen Auftreten der polnischen Regierung erkennen. Sie geht voran, wenn Europa Sanktionen gegen Putin verhängt und Waffen für die Ukraine beschafft.

Neue Kandidaten, alte Probleme

In Europa scheint mit dem 24. Februar 2022, Putins Überfall auf die Ukraine, eine neue Zeitrechnung angebrochen zu sein. Was vorher galt, gilt heute nicht mehr? Das wäre ein fataler Fehler.

Das antidemokratische, illiberale, korrupte System Orbán ist am 24. Februar nicht verschwunden. Ebenso wenig ist der Angriff auf die Gewaltenteilung in Polen gestoppt, wo die Regierung die Justiz ihrem Willen unterwerfen will und europäische Rechtsprechung ignorieren lässt. Würde die EU nun unter dem Eindruck der Ukraine-Krise die Verfahren gegen die beiden Länder einstellen, würde sie ihren Kern opfern. Dann könnte sie sich gleich selbst abschaffen.

Was jedoch stimmt: Der EU wird es immer schwerer fallen, rechtsstaatliche Standards zu verteidigen. Nun rächt sich eine vor allem von Deutschland geprägte Osteuropa-Politik, die allzu große Nachsicht mit den Populisten in Polen und Ungarn übte und zugleich auf Geschäfte mit Putin setzte. Die Staats- und Regierungschefs werden diese Woche bei ihrem Treffen in Versailles der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten die Türen öffnen, zumindest symbolisch. Eine Mitgliedschaft im Schnellverfahren als Lohn für den Kampf gegen Russland wird es auch für die Ukraine nicht geben, dafür findet sich keine Mehrheit. Aus geopolitischen Gründen ist es geboten, vor allem die Länder des Westbalkans schneller an die EU heranzuführen, um sie dem Einfluss Putins zu entziehen. Aber mit jedem beschleunigten Schritt, der den Aspiranten zugestanden wird, wird man die eigenen Beitrittskriterien aufweichen.

Nicht alle Länder, die Aufnahme begehren, sind auf dem gleichen Stand. Aber fast überall beklagt die EU die gleichen Probleme der Kandidaten: Korruption, das Fehlen einer unabhängigen Justiz, demokratische Defizite.

Das Bild einer gänzlich neuen EU

Blickt man in eine ferne Zukunft mit, hoffentlich, dem Vollmitglied Ukraine und weiteren Ländern aus dem Osten und Südosten, tut sich das Bild einer gänzlich neuen Europäischen Union auf. Sie bräuchte neue Strukturen der Entscheidungsfindung, denn mit dem Prinzip der Einstimmigkeit wäre so ein Konstrukt nicht mehr zu steuern. Und so eine EU wäre sehr viel osteuropäischer, im Sinne von: mehr auf die jeweilige nationale Identität bedacht.

"Brüssel" wolle ihnen die erst vor drei Jahrzehnten errungene Freiheit rauben: Nach diesem Muster mobilisieren die Populisten in Polen und Ungarn ihre Wähler gegen Europas Institutionen. Umso wichtiger wird es sein, dass die EU glaubwürdig bleibt im Umgang mit den beiden Ländern - auch wenn es derzeit nicht opportun erscheint, neue Strafen zu verhängen und Milliarden von Fördergeldern weiterhin zurückzuhalten.

Die Regierenden in Warschau und Budapest scheinen wegen ihrer Leistungen in der Ukraine-Krise eine Art Rabatt bei der Rechtsstaatlichkeit zu erwarten. Den kann es nicht geben. So bleibt nicht viel mehr als die Hoffnung, dass die EU, zusammengeschweißt vom Feindbild Putin, auch in dieser Frage zueinanderfindet. Zuletzt haben sich doch Unterschiede zwischen den beiden Ländern aufgetan. Die polnische Regierung versucht zumindest halbherzig, Lösungen mit der EU zu finden. Auch ihrem mäßigenden Einfluss auf Viktor Orbán ist es zu verdanken, dass die EU bislang alle Sanktionen gegen Putin einstimmig verhängen konnte. Orbán will weiterhin Geschäfte mit Putin machen und hat auch sonst nicht viel mehr im Sinn als den eigenen Vorteil. In ein paar Wochen könnten ihn die ungarischen Wählerinnen und Wähler aus dem Amt befördern. Sie würden damit auch der EU einen Gefallen tun.

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