Proteste in Russland:Sechs Sekunden gegen Putin: Kriegsgegnerin unterbricht Hauptnachrichtensendung

"Wremja" ist so etwas wie die russische Tagesschau. Während die Sprecherin die Meldungen verliest, rückt von rechts plötzlich eine Frau ins Bild und hält ein Plakat hoch.

Von Oliver Klasen

Der Auftritt der jungen Frau in der Hauptnachrichtensendung des russischen Staatsfernsehens dauert nur sechs Sekunden. Aber diese sechs Sekunden reichen, damit ihre Botschaft rüberkommt. Sie reichen auch, damit ihre Botschaft in den sozialen Medien auf der ganzen Welt geteilt wird, unter anderem vom Pianisten Igor Levit. "Was Mut wirklich bedeutet", schreibt Levit über seinen Tweet.

Um 21 Uhr russischer Zeit am Montag ereignet sich das, was der Staatssender Perwy kanal (Erster Kanal) später lediglich als "Vorfall" beschreiben wird. Ein Vorfall jedoch, der live übertragen wird, in Millionen russische Wohnzimmer. Von rechts tritt plötzlich eine Frau mit einem weißen Plakat ins Bild, während Nachrichtensprecherin Jekaterina Andrejewa in der Sendung "Wremja" gerade die Meldungen verliest. "Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen", steht auf dem Plakat. Der letzte Satz ist auf Englisch geschrieben: "Russians against war" - Russen gegen den Krieg. Dazu ruft die Frau mehrmals laut: "Nein zum Krieg!"

Der Erste Kanal ist einer der wichtigsten Sender des Landes, 250 Millionen Zuschauer, das Programm wird in alle Welt übertragen, auch in Deutschland wird er zum Beispiel von großen Teilen der russischen Community via Satellit empfangen. "Wremja" ist das russische Pendant zur "Tagesschau", mit dem Unterschied, dass die Nachrichten im deutschen Ersten nicht von der Regierung gesagt bekommen, was sie zu senden haben, während "Wremja" zu den wichtigsten Verbreitungswegen dessen gehört, was der Kreml für die Wahrheit hält. Die Anti-Kriegs-Proteste treffen das Regime hier an einem besonders wunden Punkt.

Sechs Sekunden ist also die Frau zu sehen, dann bricht die Übertragung ab und die Regie zeigt Bilder aus einem Krankenhaus. Doch die Botschaft ist in der Welt. Der kurze Ausschnitt verbreitet sich umgehend in sozialen Netzwerken. Russische Oppositionelle loben die Frau für ihren Mut.

Auch die unabhängige Zeitung Nowaja Gaseta greift die Aktion auf und zeigt einen Screenshot, dabei ist jedoch die Protestbotschaft auf dem Plakat unkenntlich gemacht. Ein Gesetz verbietet es russischen Medien bei strengsten Strafen über den Krieg in der Ukraine direkt zu berichten. Stattdessen darf offiziell nur von einer "militärischen Spezialoperation" die Rede sein. Nowaja Gaseta, schon in den vergangenen Tagen äußerst kreativ im Umgang mit der Zensur, beschreibt den Sachverhalt wie folgt: "Während der Sendung 'Wremja' erschien hinter dem Rücken der Moderatorin eine Frau mit einem Poster, dessen Inhalt wir auf Anordnung der Medienaufsichtsbehörde nicht verbreiten dürfen."

Bei der Frau handelt es sich offenbar um Marina Owsjannikowa (Ovsiannikova), eine Mitarbeiterin des Fernsehsenders. Ihre Aktion hatte sie zuvor in sozialen Medien angekündigt, dort veröffentlichte sie eine Videobotschaft, die von russischsprachigen Journalisten später auch mit englischen Untertiteln versehen wurde. Ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin, und der Krieg gegen das Nachbarland sei ein "Verbrechen", für das allein Putin verantwortlich sei. "Leider habe ich mehrere Jahre beim Ersten Kanal gearbeitet und die Propaganda des Kreml verbreitet. Dafür schäme ich mich", sagt Owsjannikowa in dem Video. Und sie betont, dass die Regierung nicht all jene verhaften könne, die sich gegen den Krieg aussprechen. Proteste hat es vom ersten Tag der Invasion an in vielen russischen Städten gegeben. Der Menschenrechtsorganisation OWD-Info zufolge sind seit dem 24. Februar mehr als 14 000 Demonstrierende von der Polizei festgenommen worden.

Berichten zufolge, etwa von der russischen Nachrichtenagentur Tass, kam auch Owsjannikowa in Polizeigewahrsam - weil sie sechs Sekunden lang dem Regime widersprochen hat. Am Dienstagnachmittag veröffentlichte ein prominenter russischer Journalist ein Foto der Redakteurin mit ihrem Anwalt Anton Gaschinski in einem Gerichtsgebäude. Laut OWD-Info wurde sie später von einem Moskauer Gericht zu einer Geldstrafe von 30 000 Rubel (226 Euro) verurteilt.

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