Kiew oder Kyiv?:Vier Buchstaben für die Freiheit

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Grafik: SZ (Foto: N/A)

Die ukrainische Hauptstadt wird in Deutschland meistens "Kiew" geschrieben. Warum Ukrainerinnen und Ukrainer fordern, die Schreibweise ihrer Städtenamen zu ändern.

Von Veronika Wulf

Die Welt schaut auf die Ukraine. Fernsehsender, Radiokanäle, Zeitungen in aller Welt berichten über Kiew und die anderen Städte, in denen der Krieg tobt. Manche berichten auch über Kyiv. Oder Kyjiw. Oder gar Ky­ïv. Gemeint ist natürlich die Hauptstadt, ist doch egal, wie man sie schreibt, schließlich gibt es dort gerade andere Probleme, könnte man meinen. Sehr vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ist es aber nicht egal. Für sie können ein paar Buchstaben ein politisches Statement sein, Ausdruck von Unabhängigkeit oder auch von jahrhundertelanger Unterdrückung - nicht erst jetzt, seit dem gewaltsamen Einmarsch Russlands. Aber jetzt besonders.

Denn die in Europa verbreitete Schreibweise - Kiew, beziehungsweise Kiev - leitet sich vom russischen Begriff Киев ab. Im englischsprachigen Raum hat sich Kyiv durchgesetzt, abgeleitet vom ukrainischen Київ. Russisch und Ukrainisch sind beides ostslawische Sprachen, etwa so verwandt wie Deutsch und Niederländisch. Beide Sprachen verwenden kyrillische Schriftzeichen, doch einige Buchstaben und die Aussprache unterscheiden sich.

"Ein großer Teil der Ukraine war leider sehr lange Zeit unter russischer Herrschaft, entsprechend wurde der Name unserer Hauptstadt nach außen so kommuniziert, wie Russen ihn aussprechen", sagt Maria Ivanytska im Videotelefonat. Sie ist Professorin am Lehrstuhl für germanische Philologie und Translation an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Oder wie sie schreiben würde: in Kyiv.

"Wir haben unsere Geschichte, unsere Sprache, unsere Seele", sagt die ukrainische Philologin Maria Ivanytska. (Foto: privat)

Man erreicht sie in Tscherniwzi (Czernowitz), im Westen der Ukraine, wo sie bei einem Freund untergekommen ist, nachdem sie aus Kiew geflohen ist. Ivanytska berichtet von einer Kollegin, die in einem nördlichen Vorort von Kiew mit ihrem zwei Wochen alten Baby tagelang in einem Keller festsaß, von Leichenteilen, die dort rechts und links der Straße liegen. Und all das schwingt mit, wenn sie sagt: "Wir haben unsere Geschichte, unsere Sprache, unsere Seele, und wir wollen nicht in der Welt mit den Russen verwechselt werden."

Seit Jahren setzen sich Menschen und Organisationen aus der Ukraine für die ukrainische Transkription von Städtenamen ein. #KyivnotKiev forderte das Außenministerium 2018 in einer Kampagne, der Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland schloss sich an, kürzlich wiederholten ukrainische Intellektuelle die Forderung. "Früher habe ich es toleriert und manchmal selbst Kiew statt Kyjiw geschrieben und gesprochen", sagt die ukrainische Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin Tanja Maljartschuk. Schließlich hätten die Ukrainer auch eigene Namen für europäische Städte. "Angesichts des Krieges in der Ukraine ändert sich aber vieles. Eine bewusste Verwendung von Kyjiw oder Dnipro (statt wie im Russischen Dnepr, Anmerkung der Redaktion) wäre ein Symbol dafür, dass man im deutschsprachigen Raum bereit ist, die Ukraine nicht länger wie eine ewige Kolonie oder einen Satelliten Russlands wahrzunehmen, sondern wie einen unabhängigen europäischen Staat, der selbst bestimmen kann, wie seine Hauptstadt heißt."

"Früher habe ich es toleriert und manchmal selbst Kiew statt Kyjiw geschrieben", sagt Schriftstellerin Tanja Maljartschuk. (Foto: Sofija Rudejchuk/dpa)

Immer wieder wurde die ukrainische Sprache durch russische Herrscher verboten

Das Territorium der Ukraine war nicht nur lange eingeklemmt zwischen großen Imperien - das Russische Zarenreich im Norden, das Osmanische Reich im Süden, Österreich-Ungarn und das Königreich Polen im Westen - sodass es oft Schauplatz von Schlachten war. Große Teile der heutigen Ukraine waren auch viele Jahre unter russischer Herrschaft. "Im Russischen Zarenreich wurde die ukrainische Sprache mehrmals verboten, es durften keine ukrainischen Bücher gedruckt werden, Ukrainisch durfte in den Schulen nicht mehr Unterrichtssprache sein", sagt Ivanytska. Ukrainisch wurde damals auch "Kleinrussisch" genannt. Daran knüpft Putin ganz bewusst an, wenn er die Ukrainer heute als "Kleinrussen" bezeichnet, die es gelte, in sein Reich zu holen.

1918 wurde die eigenständige Ukrainische Volksrepublik ausgerufen, doch schon wenige Jahre später schluckte die Sowjetunion das Land. Nach einer kurzen Blütephase des Ukrainischen änderte Stalin die Politik. "Es wurden wieder ukrainische Bücher verbrannt", sagt Ivanytska. Die Sprache sei oft als hinterwäldlerischer Dialekt verspottet, einige Wörter, Wortformen und sogar ein Buchstabe seien in der neuen, sowjetischen Rechtschreibung aus dem Wörterbuch geworfen worden. "Das war ein riesiger Schlag für die ukrainische Sprache", sagt Ivanytska. "Ihr Rückgrat wurde gebrochen."

Annexion der Krim - "Jetzt reicht es uns"

Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 kam die Wende, auch sprachpolitisch, wenn auch nicht auf einen Schlag. "De jure war Ukrainisch die Staatssprache, aber de facto dominierte die russische Sprache", sagt Ivanytska. Um das zu ändern, trieben mehrere Regierungen in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine konsequente Ukrainisierung voran, die bis in die Gegenwart reicht. Mit Gesetzen stärkten sie die Sprache an den Schulen, in Behörden, Rundfunk, Film, Fernsehen und Presse. Das Russische wurde dadurch unweigerlich zurückgedrängt, was nicht ohne Kritik blieb. Gerade in der Ost- und Südukraine waren und sind auch heute noch viele Menschen russische Muttersprachler. 2012 gab es sogar eine Schlägerei im Parlament, als über einen Gesetzentwurf diskutiert wurde, der Russisch in Teilen der Ukraine als offizielle Regionalsprache erlaubt. Nicht zuletzt die Annexion der Krim und die russische Invasion in die Ostukraine 2014 ließen noch mehr Ukrainer für ihre Sprache aufstehen. "Das hat das Fass ins Rollen gebracht, viele Russischsprachige haben bewusst zum Ukrainischen gewechselt", sagt Ivanytska.

Gerd Hentschel, Slawistikprofessor an der Universität Oldenburg, erachtet die Bemühungen, das Ukrainische wieder zu stärken, als "verständlich und vernünftig." Zumal es jedem weiterhin freistehe, Russisch zu sprechen. "Niemand in der Ukraine wird bedrängt, niemand wird verfolgt, und niemand wird getötet, wenn er Russisch spricht", schrieb er 2014 in einer Stellungnahme, selbst auf der Rednerbühne der Majdan-Proteste habe man frei Russisch sprechen können. Er selbst nutzt ukrainische Transkriptionen, wenn er Eigennamen notiert, schreibt also "Kyjiw" und "Ky­ïv", wenn er wissenschaftlich publiziert. "Die Orientierung an der ukrainischen Lautgestalt halte ich für geboten, schon weil das Ukrainische ohne Zweifel die Mehrheitssprache ist."

Muss man dann auch "Nizza" ändern? Und "Mailand"?

Im Duden stehen drei Schreibweisen, ohne Erklärung: Kiew, Kyjiw und Kyïv. Erstere stammt aus dem Russischen und ist - aus historischer Gewohnheit - die am meisten verbreitete Schreibweise in Deutschland. Es gibt gute Gründe dafür. Etwa, dass sie jeder versteht, dass sie jeder aussprechen kann, dass Formulare nicht geändert werden müssen und das Auswärtige Amt sowie alle großen Medienhäuser es so machen. Auch die SZ schreibt "Kiew", verwendet bei anderen Orten oder bisher unbekannten ukrainischen Eigennamen jedoch zumeist die Transkription aus der Landessprache.

Sprache ist immer im Wandel, oft auch aus politischen Gründen, aus Weißrussland etwa wurde Belarus, und nicht immer ist der Gebrauch einheitlich in Medien und Öffentlichkeit. Doch wo fängt man an zu ändern, wo hört man auf? Müsste dann auch aus Mailand Milano werden? Aus Nizza Nice?

Manche Medien haben kürzlich ihre Schreibweise angepasst, das Katapult-Magazin etwa schreibt nun Kyjiw. "Das ist uns wichtig, obwohl es eher symbolisch ist", sagt Ivanytska, "genauso wie wenn jetzt viele Städte ihre Häuser in den Farben der Ukraine anstrahlen. Dadurch fühlen wir die Unterstützung, dass die Welt uns hört und an uns denkt."

Der bekannteste Dichter der Ukraine ist für eine einheitliche, offizielle Schreibweise

Dass sich die Meinung auch bei einigen Ukrainern derzeit verändert, merkt man, wenn man mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus dem Land spricht.

Ukrainisch zu sprechen, gelte als progressiv, meint der ukrainische Dichter Juri Andruchowytsch. (Foto: Yurii Rylchuk/imago images/Ukrinform)

"Ich sehe die Tendenz, dass Ukrainisch zu sprechen als progressiv gilt. Die Zahl von Leuten, die diese Sprache verwenden, wächst", sagt Juri Andruchowytsch, der bekannteste ukrainische Dichter. In den deutschsprachigen Übersetzungen seiner Bücher steht "Kiew" und "Lemberg", auch wenn er in E-Mails die ukrainischen Transkriptionen "Kyiw" und "Lwiw" verwende. "Das war für mich eigentlich kein Problem, weil ich dachte, das liegt in der Autonomie der deutschen Sprache", sagt Andruchowytsch, der auch Deutsch spricht, am Telefon. So wie im Deutschen eben auch Warschau und nicht Warszawa geschrieben werde. Im Kontext des Krieges bekomme das aber eine andere Bedeutung. Deshalb plädiert er für eine einheitliche, ukrainische Schreibweise, die als einzig mögliche Form offiziell festgelegt wird, und an die sich Autorinnen und Lektoren halten können.

Die Schriftstellerin Marjana Gaponenko unterstützt die Ukrainisierung, auch wenn ihre Muttersprache Russisch ist. (Foto: imago stock&people)

Selbst die ukrainische Schriftstellerin Marjana Gaponenko, deren Muttersprache Russisch ist, unterstützt die ukrainische Transkription. Gaponenko lebt in Mainz und publiziert seit 25 Jahren auf Deutsch. Ihr Ukrainisch "stagniert seit vielen Jahren auf dem Schulniveau", wie sie sagt. "Als russischsprachige Odessitin durchlaufe ich zusammen mit der überwiegenden Mehrheit meiner Landsleute in diesen Tagen einen unumkehrbaren Ukrainisierungsprozess." Der Anlass sei zwar traurig. Aber ohne ihn wäre sie vermutlich nie im Leben darauf gekommen, einen Ukrainisch-Kurs zu besuchen - wenn der Krieg dann vorbei ist.

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