Nato:Dieses Gefühl der Scham

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Macht und Ohnmacht: US-Präsident Joe Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (rechts) in Brüssel, 24. März 2022. (Foto: Evan Vucci/AP)

Auf dem Brüsseler Gipfel mit Joe Biden: Das westliche Bündnis kann und will für die Ukraine nicht tun, was sie dringend wünscht - Kriegspartei zu werden.

Von Daniel Brössler

Vielleicht selten in der Geschichte lagen nahezu grenzenlose Macht und kaum zu ertragende Ohnmacht so nah beieinander wie an diesem Tag in Brüssel, einen Monat nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Mit Gipfeltreffen von Nato, G 7 und Europäischer Union im Stundentakt haben die Demokratien des Westens eine Ansammlung militärischer, wirtschaftlicher und politischer Macht zur Schau gestellt, die ihresgleichen sucht. In ihrer Antwort aber auf die per Video geäußerten Bitten des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij um Beistand blieben sie so weit hinter dem Erflehten zurück, dass keiner der Staats- und Regierungschefs ohne ein Gefühl der Scham in die Heimat wird zurückkehren können.

Es ist seit dem Überfall auf die Ukraine viel gesprochen worden über die Irrtümer des Wladimir Putin. Darüber, wie sehr er, gefangen in einer eigenen Welt aus Wahn und Wut, den Widerstandswillen des ukrainischen Volkes, die Fähigkeiten der ukrainischen Armee und die Geschlossenheit der westlichen Demokratien unterschätzt hat. Es stimmt: Die russischen Invasoren haben zwar unfassbares Leid über die ukrainische Bevölkerung gebracht, aber ihrem Ziel, das Land zu unterwerfen, sind sie nicht näher gekommen. Die westliche Waffenhilfe und auch die bisherigen Wirtschaftssanktionen gehen weit über das hinaus, worauf Putin sich eingestellt hat. Doch dieser Überraschungsmoment beginnt zu verfliegen. Längst kann sich der Diktator auf die Schritte des Westens deutlich besser einstellen, als das umgekehrt der Fall ist.

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Putins größtes Kapital im Konflikt mit dem Westen ist dabei sein schlechter Ruf. Nach dem Georgien-Krieg, der Krim-Annexion, dem Syrien-Feldzug und dem Überfall auf die Ukraine gibt es fast nichts, was dem Kremlchef nicht zuzutrauen wäre. Der Einsatz biologischer und chemischer Waffen gehört dazu. Selbst die Ungewissheit, ob er nicht sogar zu Atomwaffen greifen würde, ist Teil seines Kalküls. Auch die wirtschaftlichen Kosten der Sanktionen wird er tragen, solange sie nur das Leben der Bürger in Russland ruinieren und seinen Militär- und Machtapparat nicht gefährden. Auf der anderen Seite stehen Staatsführer, die den Wohlstand ihrer Bürger zu retten haben und in der Pflicht stehen, einen dritten Weltkrieg zu verhindern.

Welches Land wäre das nächste?

Das führt in ein Dilemma, das in Brüssel überdeutlich geworden ist. Die USA und ihre Verbündeten wollen der Ukraine nur bis zu dem Punkt zur Hilfe eilen, der nicht zu einer Ausweitung des Krieges führt. Sie wissen aber auch, dass ein russischer Sieg über die Ukraine die Welt zu einem noch viel gefährlicheren Ort machen würde. Putin hätte keinerlei Grund, seinen imperialistischen Feldzug nicht fortzuführen. Die Frage, welches Land als nächstes an der Reihe wäre, ist für Moldau, Georgien und auch Nato-Länder wie Estland, Lettland und Litauen keine akademische. Die Ukraine kämpft also tatsächlich nicht nur für sich, sondern auch für den Frieden, den andere für sich noch zu bewahren hoffen.

Es genügt daher nicht, Russland vor schweren Konsequenzen zu warnen für den Fall, dass es chemische oder biologische Waffen einsetzt. Das Flehen der Ukraine nach mehr Waffen muss erhört werden. Und so verständlich und berechtigt die Sorge vor den Folgen eines Öl- und Gasembargos ist, so kann Putin sie nur als Zeichen westlicher Ohnmacht werten. Nichts ist in diesen Tagen gefährlicher als das.

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