Serie 1972: Das Jahr, das bleibt, Folge 9:Es war Liebe

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Heute werden Autos einfach nur größer, die Sehnsucht der Siebziger wollte Fahrzeuge, die mehr können: Der Lotus Esprit wurde im James-Bond-Film "Der Spion, der mich liebte" von 1977 sogar zum U-Boot. (Foto: imago stock&people)

Auto, Motor, Spuck: Fahrzeuge sehen heute meist zum Erbrechen aus. Eine Erinnerung an die frühen Siebzigerjahre, als der Futurismus Räder bekam.

Von Gerhard Matzig

Das Auto-Design der frühen Siebzigerjahre ist grandios. Es beschreibt so zukunftsbesoffen wie ernsthaft optimistisch eine Welt der technoiden Sehnsucht. Eine Alles-wird-gut-Welt, in der keilförmige, flache, abenteuerlich orthogonal geformte und zum Niederknien berauschende Autos zu Zeitmaschinen und Utopien ihrer selbst werden. Samt Sicherheitsgurt dann von 1974 an. Und Deutschland wird auch noch Fußballweltmeister. Es ist offenbar reine Magie.

Zu Raum- und Zeitkapseln mit Warp-Antrieb werden Autos, die nicht mal richtig Wumms unter dem Hubraumdeckel haben; aber guckt man sie auch nur an, ist man schon auf Speed. Die Frauen, die werbewirksam nach alter Väter Sitte auf den bettengroßen Motorhauben liegen, sind gar nicht nötig, um das Begehren zu wecken. Der Sexismus ist noch nicht inkriminiert. Bis dahin kann man die als Hommage an den rechten Winkel ersonnenen Autos, die von einer jungen, lustbetonten Gesellschaft und nicht von der hüftsteifen SUV-Gerontokratie gefahren werden, noch ohne Haushaltsleiter und Treppenlift besteigen. Sie haben zwar im Schnitt rund 500 PS weniger als die Bogenhausener Blähbauchmonster von heute, dafür aber hochgradig haptischen Sexappeal.

Solche Personenkraftwagen transportieren keine Personen, sondern das Versprechen auf ein besseres Leben. Jahrzehnte zuvor erklärt der Architekt Frank Lloyd Wright, warum er keine Rückspiegel im Auto mag: "Weil ich nicht wissen will, woher ich komme, sondern wohin ich fahre." Ein Wort für die Siebziger, in denen die Zukunft autotechnisch die Verlängerung der Motorhaube ist? Vroooaaaa.

Wie im Comic. Wie in Zack, seit 1972 auch in Deutschland am Kiosk zu haben, wo man endlich den heroischen Rennfahrer Michel Vaillant auftreten lässt. Die Welt retten, indem man Gas und Gummi gibt. Ja, gut, das ist definitiv noch vor dem Siegeszug des Lastenfahrrads. Der englische Rennwagen-Konstrukteur und Gründer von Lotus, Colin Chapman, sagt seinerzeit: "Simplify, then add lightness." Das Einfache und das Leichte: Besser lässt sich die Nachkriegsmoderne als Fusion von Mies van der Rohe, Günter Behnisch und Formel 1 kaum ausdrücken. (Das Lastenfahrrad ist natürlich auch ganz toll. Bitte keine Leserbriefe, bitte, bitte keine!)

Zurück zu James Bond, wo der Lotus Esprit im Film kaum einen Meter hoch ist und gerade deshalb erhaben wirkt. Simple Lightness. Sogar zum U-Boot wird das Auto, um einen Hubschrauber erst abzuhängen, dann abzuschießen. Mit 160 PS, so viel hat heute etwa der (im aktuellen Vergleich sehr schöne) Skoda Oktavia. Braucht man ernsthaft mehr? Ein BMW iX M60, der angeblich was mit Elektro, Öko und Zukunft zu tun haben soll, allerdings aussieht wie eine geschmolzene Tüte Gummibärchen, bringt es auf 619 PS und 2,7 Tonnen Leergewicht. Gegen ein solches Auto ist der Lotus Esprit S1 aus "Der Spion, der mich liebte", 1977, samt Fronttorpedo und Raketenwerfer ein Aspirant für den Friedensnobelpreis. Das Öko-Test-Zertifikat gibt es on top.

Bauhaus mit Lenkrad: Fiat Panda. (Foto: imago/Leemage)

Erstmals gezeigt wird der von Giorgetto Giugiaro gestaltete Esprit in Turin 1972. Er beeinflusst den Fiat Panda, der zum Bauhaus mit Lenkrad wird, den VW Golf, und er ist sogar verwandt mit dem Audi 80. Es ist die nicht ganz so glamouröse Verwandtschaft, aber immerhin. Wenn man aus einem Bond-Film im Kino kommt, Anfang der Achtzigerjahre, hat der weiße Lotus gerade das Böse niedergerungen und die Welt gerettet. Anschließend fährt man heim und parkt seinen schwarzen Fiat Panda mit Faltdach heroisch vor dem Reihenhaus. Eine Art Bond-Girl sitzt neben einem. Sie lächelt. Es ist Liebe.

Die Zeiten sind hoffnungsfroh, und Otl Aicher verleiht den Spielen 1972 in München eine unerhörte Strahlkraft. Der geniale Gestalter lässt München erstmals seit den Gladius-Dei-Tagen Thomas Manns wieder leuchten. Trotz des Terrors. Das Schöne stellt sich ein, wenn "das Äußere ein Bild des Inneren" ist. Sagt Aicher. Deutschland ist der Zukunft freudig zugewandt, offen, kühn, die Welt umarmend. Ein Volk kommt aus dem Dunkel und will ins Licht. Und heute? Deutschland, das Land, dem es immer noch so gut geht, ist ein Oberjammergau. Auf der Straße, die manche Menschen schon länger mit einem Kriegsgebiet verwechseln, fahren passenderweise keine Autos, sondern Panzerwagen.

In den Concept-Cars der Gegenwart gibt es innen trotzdem oder auch deshalb Wellness: knöcheltiefe Teppichböden und Massageliegesessel. Das Auto-Äußere sieht, vom E-Up bis zum Tesla, nur selten so futuristisch aus wie ein Golf von 1974. Die Autos werden immer banaler. Aus den Liegesesseln kann man dafür Netflix per Eye-Tracking befehligen, hat aber - wie auch, ohne Lenkrad - sonst nichts zu melden. In der Mittelkonsole ein Drehrad in der Anmutung eines aufgehobelten Swarovski-Kristalls, wieso nur mussten Autos denn gleich so hässlich werden?

Man dachte früher, diese Gegenwart würde eine atemberaubende Barbarella-Zukunft sein

Die Massageliegesessel auf der unfreiwillig komischen IAA in München im vergangenen Jahr sind Stressless-Kindersitze. Dagegen wirkt das Cockpit eines Lotus Esprit, gefertigt von 1976 an, wie die Kommandozentrale von Raumschiff Enterprise. Die Galaxien, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat, zeigt das ZDF von Mai 1972 an. Die Enterprise und Zack bringen den damals neunjährigen Autor durchs Leben hinter den sieben Bergen. Der Fiat Panda wird später halb zum Lotus, halb zum Raumschiff. Pures Glück.

Nach den Sixties und Siebzigerjahren kommt von den späten Achtzigern an und vollends degeneriert in unserer Gegenwart das, was sich schließlich als grotesker Design-Unfall herausstellt. Es ist das Jahr 2022. Man dachte früher, diese Gegenwart würde eine atemberaubende Barbarella-Zukunft sein. Doch auf den Straßen sieht diese Zukunft aus wie etwas vor der Erfindung des Buchdrucks. Vor den Siebzigerjahren war das Auto-Design ötlötlötl, danach wurde es beurk. Onomatopoetisch, also Comic-lautmalerisch bedeutet das: zum Erbrechen. Auto, Motor, Spuck. Das Auto-Design ist das geworden, was hochkommt. Man gibt zweikommasieben Tonnen Geld aus - und bekommt zweikommasieben Tonnen Steroid-Schrott, der nicht mal mehr in die Städte passt. Das PS-Bestiarium, das die deutsche Automobilindustrie derzeit im Angebot hat, ist kein Fall für den Führerschein. Sondern für den Waffenschein. Die Modellpolitik besteht aus Karikaturen der Mobilität. Grund, wenn man fragt: Die Kunden in China, Texas und Dubai wollen das so. Na gut, dann aber bitte ohne uns, okay?

In den Siebzigerjahren haben sich dagegen autogeschichtlich der Futurismus und das Bauhaus vom Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen mit dem Drive der Sixties optimistisch entfaltet. Kurioserweise zu der Zeit, da der Club of Rome die "Grenzen des Wachstums" veröffentlicht. Auch das ist 1972: schillernd. Heute sind die Grenzen erreicht. 1972 ist der Kippmoment in der deutschen Geschichte.

Selten futuristisch: Das erste Golf-Modell. (Foto: Wolfgang Weihs/picture alliance / dpa)

Der deutsche Playboy kommt in die Kioske (so tolle Interviews!), passend dazu wird in Bundesbehörden die Bezeichnung "Fräulein" verboten, weil sich auch das dazugehörige Fräuleinwunder als Missverständnis erwiesen hat. In Schweden nehmen vier Verrückte ihre erste Single auf, zwei Jahre später geben sie sich einen absurden Namen, der auch zu einem Ikea-Sessel passen würde: Abba.

Die Wohnzimmergarnitur in Eiche rustikal verschwindet. Statt auf Abba hängt man auf Sitzsäcken ab. Mit dem Golf fährt man nach Eching, wo die erste deutsche Ikea-Filiale 1974 öffnet. Man will in Erinnerung an Weimar, Dessau und Gropius endlich wieder modern sein. Das Leben fängt an, Thrill zu bieten, wie es Karl-Heinz Bohrer dem aus der Tiefe des Raums vorstoßenden Günter Netzer attestiert. Die Tiefe des Raumes ist unbedingt eine Architekturfrage. 1974 gewinnen wir die WM, aber am schönsten als Raumidee ist unser deutscher Fußball bei der EM zwei Jahre vorher.

Thrill und Vroooaaaa werden serienmäßig verbaut. Man fährt los, nicht, um auf der A 8 im biodynamisch vernudelten Dienst-Hybrid im Stau zu stehen, sondern um an einen Ort zu gelangen, den es nicht gibt, aber geben sollte. Das ist die Utopie im Wortsinn: ein großes Sehnen.

Überbleibsel des Stils der Siebziger: Ein DeLorean DMC-12, gebaut ab 1981, auf einer Automobilmesse in Tokyo 2016, (Foto: imago/AFLO)

Der Design-Experte Paolo Tumminelli sagt: "Die Grundidee der Edge Box, Autos wie scharfkantige Würfel, ist italienisch, inspiriert vom rationalistischen International Style der Architektur." Tumminelli zieht eine Linie, so klar wie die Ligne claire, die auch Michel Vaillant hervorgebracht hat, "von Gio Ponti über Pininfarina bis zu Bertone". Es ist die italienische Hochrenaissance im Auto-Design. Tumminelli fasst sie netterweise für uns Deutsche auf verständliche Weise so zusammen: "Das Runde muss ins Eckige." Klare Kante: "Symbolisch ist der Winkel die ultimative Form des Sieges - ein Zeichen des Widerstands des Menschen gegen unerwünschte Naturphänomene. In den Siebzigerjahren geht es im Auto-Design um die Technologie gegen die Natur."

Die Natur siegt. Die aktuellen Saurier in den Autohäusern zerfallen zu Staub, wie die Autohäuser bald selbst. Das Auto der Zukunft sieht jedoch aus wie eine Erinnerung an die Siebzigerjahre - wenn man Glück hat. Wenn man Pech hat, wird das Auto der Zukunft aus essbaren Kaffeebechern plus Ozeanplastik to go bestehen und bei sündigen 45 km/h abgeregelt sein. Angetrieben von Solarmodulen, die auch Windkraft speichern. Aussehend wie der Google-Entwurf für autonomes Fahren, den Friedensreich Hundertwasser in die Hände bekommen hat. Hundertwasser, die esoterische Top-Nervensäge, fand den rechten Winkel satanisch.

Das Auto der Zukunft, einem rollenden Bällebad gleich, wird von Elon Musk auf dem Mars und in Brandenburg gebaut. Was keinen Unterschied macht. Robert Habeck gehört zu den ersten Deutschen, die das Auto der Zukunft fahren. Oder wenigstens drinsitzen. Mit Annalena steht er auf der A 100 im Stau - wegen der Klimaaktivisten. Falls dieser Horror kommt, alles spricht dafür, wird man in einen alten Panda steigen. Der Fluxkompensator fluxuiert.

Wir geben das Jahr der Sehnsucht ein. 1972.

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