Krieg in der Ukraine:Biden spricht jetzt von "Völkermord"

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"Wahre Worte eines wahren Anführers": Das schrieb der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij, nachdem sein US-Kollege Joe Biden Russlands Vorgehen einen "Völkermord" genannt hatte. (Foto: Mandel Ngan/AFP)

Bisher erkennen die USA den Internationalen Strafgerichtshof nicht an. Wie können sie trotzdem sicherstellen, dass sich russische Befehlshaber für die Kriegsgräuel in der Ukraine verantworten müssen? Die Frage bringt in den USA gerade vieles in Bewegung.

Von Fabian Fellmann, Washington

Russlands Krieg in der Ukraine stelle einen "Völkermord" dar. Das sagte US-Präsident Joe Biden am Dienstag mehrfach. "Ja, ich habe von einem Genozid gesprochen", sagte Biden am Rande eines Auftritts in Iowa. "Putin versucht, die Idee auszulöschen, dass man überhaupt ukrainisch sein könnte." Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij applaudierte Bidens Wortwahl: "Wahre Worte eines wahren Anführers", schrieb er auf Twitter. "Die Dinge beim Namen zu nennen ist unabdingbar, um sich gegen das Böse zu stellen."

Biden eskaliert damit nicht nur die Rhetorik. Schon Anfang April, als Bilder der Leichen in den Straßen der ukrainischen Stadt Butscha publik wurden, hat er Putin als "Kriegsverbrecher" bezeichnet. Da allerdings lehnte es Biden noch ausdrücklich ab, den Begriff "Völkermord" zu verwenden. Dieser ist definiert als Tötung mit der Absicht, eine bestimmte Gruppe auszulöschen.

Warum also wechselt Biden jetzt zur neuen Bezeichnung? Sie ist von mehr als nur symbolischer Bedeutung. Erkennt die US-Regierung ein Verbrechen formell als Genozid an, lässt sie darauf üblicherweise Sanktionen, Reiseverbote und andere juristische Schritte folgen. Biden wollte sich noch nicht darauf festlegen, ob er auf einen solchen Prozess anspielte. "Wir werden die Anwälte auf internationaler Ebene entscheiden lassen, ob es die Schwelle überschreitet, aber auf mich wirkt es ganz sicher so", sagte er.

Dennoch hat sich Biden mit seiner Bemerkung kaum nur den Frust von der Seele geredet. Vielmehr zeigte er damit, dass er und seine Regierung derzeit eine heikle Frage diskutieren: Wie kann die internationale Gemeinschaft sicherstellen, dass russische Befehlshaber und Ausführende für Kriegsverbrechen und Völkermord zur Verantwortung gezogen werden?

Laut Biden gehört Putin vor ein internationales Gericht. Nur welches?

In der unter russischer Besatzung verwüsteten Stadt Butscha sammeln Forensiker aus der Ukraine und Frankreich gerade Beweise. Doch ist derzeit unklar, wo sich ein juristischer Prozess dereinst abspielen könnte, etwa in der Ukraine selbst oder auf internationaler Ebene. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat jedenfalls bereits Verfahren eröffnet.

Biden hat ebenfalls schon vor zehn Tagen verlangt, Putin vor ein internationales Gericht zu stellen. Die Einrichtung eines Sondertribunals wie jenem in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch mit vielen Unsicherheiten behaftet. Mit dem Gerichtshof in Den Haag jedoch arbeiten die USA nur sehr begrenzt zusammen: Sie wollen nicht akzeptieren, dass die internationale Strafinstanz auch amerikanische Bürger belangt - und damit auch amerikanische Kriegsverbrechen beurteilen könnte. Auch stellen sich die USA schützend vor Israel, das den Strafgerichtshof ebenfalls nicht anerkennen will.

Die Ambivalenz behält die Regierung Biden vorerst öffentlich bei. Sicherheitsberater Jake Sullivan bezeichnete diese Woche im Fernsehsender ABC die mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen als "etwas Geplantes". Nun müssten die USA mit ihren Alliierten und Partnern den sinnvollsten Weg finden, sie zur Verantwortung zu ziehen. Der Strafgerichtshof habe in der Vergangenheit zur Beurteilung von Kriegsverbrechen gedient, aber es gebe auch Beispiele anderer Mechanismen.

Bisher hat der Kongress den Spielraum der Regierung stark eingeschränkt. Er hat ihr per Gesetz verboten, den IStGH mit Geldern zu unterstützen. Die USA dürfen darum zum Beispiel auch keine Ermittler entsenden. Nun prüft die Biden-Regierung, inwiefern sie Den Haag trotzdem zuarbeiten könnte.

Auch der Kongress scheint sich zu bewegen. Selbst Republikaner sind inzwischen der Ansicht, der Ukraine-Krieg rechtfertige eine Kursänderung gegenüber dem Strafgerichtshof. Senator Lindsey Graham will das Gesetz aufweichen: Künftig sollen die USA dann mit dem Strafgerichtshof zusammenarbeiten, wenn es um Verbrechen in einem Staat ohne funktionierendes Rechtssystem geht. Die USA und Israel etwa wären damit weiterhin ausgenommen; im Fall von Russland hingegen, wo für Putin und andere mutmaßliche Kriegsverbrecher nach jetzigem Stand Straflosigkeit garantiert ist, würden die USA den IStGH unterstützen.

Sogar die Republikaner sehen Den Haag plötzlich mit anderen Augen

Noch leistet das Pentagon Widerstand, doch Graham gab sich in der New York Times siegessicher: "Das ist eine von Putins größeren Errungenschaften. Ich hielt es nicht für möglich, aber er hat es geschafft: Den Internationalen Strafgerichtshof in den Augen der Republikanischen Partei und des amerikanischen Volks zu rehabilitieren."

Derweil beschleunigt die US-Regierung ihre Militärhilfe an die Ukraine: Biden kündigte am Mittwoch eine neue Tranche im Umfang von 800 Millionen US-Dollar an. Die USA wollen unter anderem 18 Howitzer-Geschütze, elf der auch von den USA genutzten Mi-17-Hubschrauber aus russischer Produktion, 300 gepanzerte Fahrzeuge sowie 300 der kleinen Switchblade-Drohnen liefern. Biden sagte, er habe zuvor mit Selenskij telefoniert und ihm versichert, die USA würden die Ukraine weiterhin unterstützen. "Das ukrainische Militär hat die Waffen, mit denen wir es versorgen, bisher mit vernichtendem Effekt eingesetzt", sagte Biden.

Die Militärhilfe der USA an die Ukraine summiert sich in diesem Jahr bereits auf über drei Milliarden US-Dollar. Bidens Regierung diskutiert darum mit der amerikanischen Rüstungsindustrie, wie die Produktion beschleunigt werden könnte. Sie hat beispielsweise schon so viele Anti-Panzer-Waffen in die Ukraine gesandt, dass es bis zu fünf Jahre dauern dürfte, um die eigenen Bestände wieder aufzufüllen. Die Ukraine versucht gleichzeitig, direkt bei den US-amerikanischen Herstellern Waffen zu beschaffen: Die Botschafterin in Washington traf in der vergangenen Woche Vertreter der Hersteller von Reaper- und Predator-Kampfdrohnen.

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