Zwangsstörung:Verhallende Hilferufe

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"Es ist schwer, Lobbyarbeit zu machen, wenn man wegen seiner Krankheit das Telefon nicht anfassen kann": Wie Zwangskranke unter der Verkennung ihrer Störung leiden.

D. Ballwieser

Es passiert immer dann, wenn es Ärger gibt, Konflikte oder Anspannung: Antonia Peters greift sich an den Kopf und reißt sich Haare aus. "Wenn ich reiße, fühle ich mich einen Moment lang wohl. Angst und Anspannung sind weg. Dann wache ich auf und denke, was habe ich jetzt wieder gemacht", erzählt die 51-jährige Frau mit dem sympathischen hanseatischen Akzent. "Aber die eigentliche Sucht, das war für mich, die Haare in den Mund zu stecken und darauf herumzukauen." Mittlerweile kann Peters über ihre Krankheit sprechen, knapp 40 Jahre nachdem sie sich als Teenager erstmals die Haare ausriss.

Anrufen oder doch nicht? Für Zwangserkrankte können alltägliche Aufgaben unüberwindliche Probleme darstellen. (Foto: Foto:)

Trichotillomanie heißt der Zwang, sich die eigenen Haare auszureißen. Die meisten Betroffenen empfinden ein lustvolles Gefühl, wenn sie die Haare anschließend in den Mund nehmen. Doch kurze Zeit später wird klar, was sie getan haben. Peinlich berührt, versuchen sie dann die kahlen Stellen auf ihrem Kopf zu bedecken. Häufig schämen sie sich so sehr, dass sie sich nicht trauen, zum Arzt zu gehen.

Doch das wäre ein Fehler, denn das Haareausreißen gehört zu der großen Gruppe der Zwangsstörungen, unter denen in Deutschland nach Expertenschätzung immerhin eine Million Menschen leiden. Dazu gehören Verhaltensweisen wie zwanghaftes Händewaschen oder der Drang an Wasserhähnen und Türschlössern immer wieder zu kontrollieren, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.

Auch bestimmte Gedankenmuster können zwanghaft wiederkehren - etwa die Angst der Mutter, sie könnte ihrem Kind etwas antun. Dabei ist der Übergang vom normalen zum pathologischen Verhalten fließend. Menschen entwickeln eine Vielzahl von Angewohnheiten, um innere Spannungen zu lösen. Bestenfalls sind das harmlose Angewohnheiten, zum Beispiel das Fingertrommeln auf dem Tisch vor einem Gespräch mit dem Chef, das Ziehen am Ohrläppchen bei Aufregung. Schlimmstenfalls werden aus diesen Spannungslösern krankhafte Zwänge, von denen man sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann.

"Wie kann man bloß so blöd sein?"

Aus Antonia Peters Sicht ist das Haareausreißen ein Weg gewesen, mit ihrem unausgesprochenen Problem umzugehen: Ihre rechte Körperhälfte ist gelähmt. Als sie als Teenager erstmals auf Menschen traf, die auf ihre Behinderung mit Abwehr und Ekel reagierte, fing es an, das Haarereißen.

Peters ist heute Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (DGZ) , der ersten Anlaufstelle für Zwangskranke auf der Suche nach Hilfe. Mit ihrer Arbeit will sie verhindern, dass es anderen Patienten so geht wie ihr. Fast 40 Jahre war Peters alt, als sie bei einer ambulanten Verhaltenstherapie im Hamburger Uniklinikum erstmals gezielt ihre inneren Spannungen bearbeiten konnte.

Zuvor versuchte sie jahrelang vergeblich, des Symptoms Herr zu werden: Ein Neurologe schickte sie zur Therapie ihres Selbstwertgefühls, anschließend ging das Reißen jedoch sofort wieder los. Ein psychiatrischer Chefarzt schleuderte ihr den Kommentar entgegen: "Wie kann man bloß so blöd sein, sich bei Problemen die Haare auszureißen?" Sie solle sich doch von ihrem Freund trennen, ergänzte der Arzt.

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"Unser größtes Problem ist, dass Zwangspatienten nicht einfach zu uns kommen und sagen: Ich habe ein Problem", sagt Ivor Tominschek von der Tagklinik Westend in München, die unter anderem auf Zwangsstörungen spezialisiert ist. "Die meisten Zwänge führen ja gerade dazu, dass sie zum Beispiel ihre Wohnung kaum noch verlassen können." Muss der Herd mehrere Dutzend mal kontrolliert werden, muss die Türklinke peinlich rein sein, darf die Treppe nur in einem bestimmten Muster hinabgestiegen werden auf dem Weg nach draußen, dann wird jeder Versuch, sich Hilfe zu suchen, zum Teil des Problems.

Dabei können Psychologen und Psychiater Zwangspatienten durchaus helfen. Vor allem die Verhaltenstherapie bietet verschiedene Techniken, Zwängen zu widerstehen. Bei einem Patienten mit einem Hygienezwang beispielsweise kann der penibel vor- und nachbereitete Griff in schmutziges Wasser Teil der Therapie sein. Auch Medikamente stehen in der akuten Phase zur Verfügung. Peters zum Beispiel war zum ersten Mal beschwerdefrei, als sie im Rahmen einer Studie bestimmte Antidepressiva einnahm.

Allerdings gelingt eine endgültige Heilung häufig nicht. Auch bei Peters kehrt in Konfliktsituationen immer mal wieder der Drang zurück, sich an den Kopf zu greifen. Manchmal verschob sich auch das Symptom - sie fing zum Beispiel an, wahllos Dinge zu kaufen oder ganztägig zu telefonieren. "Heute habe ich aber das Rüstzeug, um mit meinen Zwängen umzugehen", sagt Peters, "das ist das eigentlich entscheidende." Das Ziel ist, dem Zwang ein selbstbestimmtes Leben abzutrotzen.

Den besten Überblick über die Versorgungslage für Zwangspatienten hat die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen. 500 spezialisierte Therapeuten hat die DGZ verzeichnet. "Wir versuchen ständig, Therapeuten zu finden, die auch Zwangspatienten behandeln, doch es ist mühsam", klagt Geschäftsführer Wolf Hartmann.

Gemeinsam mit Vertretern von Patienten mit anderen seltenen psychischen Störungen versucht die Selbsthilfeorganisation deshalb Vorurteile und Stigmata abzubauen: "Es kann sich niemand vorstellen, wie schwer es ist, einem anderen Menschen zu gestehen, dass man sich die Haare ausreißt", sagt Peters. Zudem hätten Zwangspatienten besonders große Probleme, ihre Interessen zu vertreten. "Es ist schwer, Lobbyarbeit zu machen, wenn man wegen seiner Krankheit das Telefon nicht anfassen kann und das Haus nicht verlässt."

Antonia Peters würde sich für ihre Arbeit einen prominenten Zwangspatienten wünschen, der zu seiner Störung steht. "Als der Film "Aviator" über den Zwangspatienten Howard Hughes in die Kinos kam, da haben sich mehr Leute bei uns gemeldet", sagt sie. "Wir bräuchten so eine Figur, die für uns spricht." Nach einem Prominenten, der öffentlich zugibt, dass er sich zwanghaft die Hände wäscht, sucht sie bislang allerdings vergebens.

© SZ vom 09.02.2010/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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