Theater:Herein kommt die Welt

Theater: Freiheit für alle im Namen von Schillers "Wilhelm Tell": eine Hochzeit und dazu die hippieske Version der Schweizer Nationalhymne.

Freiheit für alle im Namen von Schillers "Wilhelm Tell": eine Hochzeit und dazu die hippieske Version der Schweizer Nationalhymne.

(Foto: Flavio Karrer)

Milo Rau inszeniert Schillers "Wilhelm Tell" am Schauspielhaus Zürich - mit den persönlichen Geschichten von Schauspielern und Laien. Ein Akt umfassender Humanität.

Von Egbert Tholl

Man hat vieles erwartet, aber nicht das. Milo Rau, Schweizer Theaterstar und Intendant in Gent, inszeniert Schillers "Wilhelm Tell" im Pfauen, der Hauptbühne des Zürcher Schauspielhauses. Rau wurde berühmt mit inszenierten Nachbildungen von Realität, er stellte die "Moskauer Prozesse" gegen die Aktivistinnen von Pussy Riot nach, inszenierte im Kongo ein Kriegsverbrechertribunal, ließ Kinder die Verbrechen des belgischen Kinderschänders Marc Dutroux nachspielen oder bildete ein Stunde Sendezeit jenes Radiosenders nach, der maßgeblich zum Völkermord in Ruanda aufgerufen hatte.

Wenn Milo Rau sich eines Themas annimmt, wird es oft schmerzhaft, aufwühlend, auch provokant. Und immer politisch. Im Vorfeld seiner "Tell"-Inszenierung, bei der Laiendarsteller wie so oft bei ihm eine maßgebliche Rolle spielen, klärte er gleich mal einige Parameter. Schräg gegenüber dem Pfauen liegt der Chipperfield-Neu-und-Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich. Dieser beheimatet die Kunstsammlung von Emil G. Bührle, einem Waffenfabrikanten, der mit Rüstungsgeschäften vor allem mit den Nazis ein riesiges Vermögen anhäufte, damit eine erlesene Kunstsammlung aufbaute, für die er auch kostengünstig Werke "erwarb" von jüdischen Sammlern, die vor den Nazis fliehen mussten. Bührles Sammlung besteht zumindest in Teilen aus Raubkunst - und wird vom aufgeklärten Teil der Schweizer Kunstinteressierten gemieden.

Seit Eröffnung des Neubaus im Herbst 2021 brodelt der Skandal in Zürich, er ist aber viel älter. Bereits 1970 notierte Max Frisch in seinem Tagebuch, wie er Demonstrationen vor dem Kunsthaus beobachtete. Damals war Dietrich Bührle, Sohn von Emil G., zu einer lächerlichen Bewährungsstrafe verurteilt worden wegen illegaler Waffentransporte in Bürgerkriegsländer. Der Sohn führte das Erbe des Vaters offenbar sorgsam weiter, 50 Jahre später entstand der Neubau für die Sammlung. In dessen Nähe hat Rau zusammen mit der Künstlerin Miriam Cahn ein paar Tage vor der "Tell"-Premiere in einer Galerie eine Kunstaktion durchgeführt, in der unter anderen die Erbin eines jüdischen Kaufmanns zu Wort kam, dessen Monet sich in der Sammlung befindet, wozu die Bührle-Stiftung bislang "eine faire Lösung" verweigert.

Das Schweizer Fernsehen lauert auf einen Skandal. Aber es gibt keinen

Mit dieser Vorgeschichte erwartet man vom "Tell" die große Agitation - und findet sich wieder in einer menschlich zutiefst anrührenden Aufführung. Der Bührle-Komplex bleibt dabei stets im Hinterkopf, über der Einlasstür hängt ein Banner "Hängt den Bührle an ein Schnürle", das Schweizer Fernsehen lauert auf einen Skandal. Aber es gibt keinen. Schillers Tell ist ja ein Freiheitsheld wider Willen, den habsburgischen Reichsvogt Gessler tötet er letztlich, um die Familie zu schützen. Tell ist ein Bewahrer einer alten, gerechten Ordnung, kein Vertreter einer sozialen Utopie. Auf die aber zielt Rau. Auf Freiheit, eine egalitäre Gesellschaft. Darauf, jene sichtbar zu machen, die man nicht sehen will.

Bis die auftreten, gibt es erst einmal Theatergeschichten. Auf der Vorderbühne befinden sich die fünf Schauspieler des Abends, Michael Neuenschwander lehnt am Kontrabass, Maja Beckmann hat eine E-Gitarre umgeschnallt, beide zaubern immer wieder mal wunderzarte Klänge. Sebastian Rudolph wird bald hinter einem Garderobenständer in Naziuniform hervortreten - Hommage an Christoph Schlingensiefs "Hamlet"-Inszenierung am selben Ort, in der Rudolph 2001 mitmachte. Doch erst einmal schaltet Karin Pfammatter, eine von den drei Schweizern im Ensemble des Schauspielhauses, ein Revox-Tonbandgerät ein. Man hört einen Auszug aus dem "Tell"-Programmheft von 1939, als das Schauspielhaus die europäische Exilbühne schlechthin wurde: "Das Wort der geistigen Landesverteidigung ist heute in aller Munde. Es soll nicht Einschränkung bedeuten, sondern Weite." Die Schweizer Neutralität bedeute Freiheit und Humanität, es gelte "das Bild des Menschen in seiner Mannigfaltigkeit zu wahren". Zur gleichen Zeit machte Bührle seine Geschäfte mit den Nazis.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler erzählen von sich, vom Theater. Rudolph berichtet vom Aberwitz der Schlingensief-Produktion, bei der ehemalige Neonazis mitwirkten. Maya Alban-Zapata, PoC, erzählt, wie sie immer als Gewissen des Theaters herhalten muss: als Eine-Frau-Eingreiftruppe in heiklen Momenten.

Theater: Irma Frei, die als Heimkind in den 1960er-Jahren zwangsweise in einer Bührle-Textilfabrik arbeiten musste, erzählt ihre Geschichte.

Irma Frei, die als Heimkind in den 1960er-Jahren zwangsweise in einer Bührle-Textilfabrik arbeiten musste, erzählt ihre Geschichte.

(Foto: Flavio Karrer)

Dann öffnet sich der Raum, und die Welt kommt herein. Aus Hunderten Bewerbern hat Milo Rau zehn Laien ausgewählt. Sie helfen den Profis beim Herstellen der Aufführung, vor allem aber haben sie alle ihre eigenen Geschichten, und Rau gibt diesen Raum. Das Gerüst ist immer noch der "Tell", manchmal ist es der Schiller-Worte sogar zu viel, weil die 100 Minuten der Aufführung kein Drama abbilden, sondern Tableau sind. Dies allerdings voller Ideen, manche fahrig umgesetzt, andere echte Zaubertricks, bei denen Bühnenrealität und vorgefertigte Filme ineinander übergehen. Zwei Mal begegnen sich Tell und Gessler alleine, als Neuenschwander und Rudolph. Die erste Szene wird im Stück nur berichtet, die zweite ist der Mord in der hohlen Gasse, beides ist hier Dreißigerjahre- Filmdrama, seltsam erotisch aufgeladen.

Zwischen Schillers Worten treten auf: Irma Frei, die als Halbwaise und Verdingkind in den 1960er-Jahren drei Jahre lang Zwangsarbeit in einer Bührle-Textilfabrik leistete. Sarah Brunner, erste Offizierin der Schweizer Armee, die vor Tagen in einer inszenierten Aktion Hermon Habtemariam heiratete, Flüchtling ohne Papiere ("sans papiers"), nun für drei Jahre sicher. Cyrill Albisser ist ein Bilderbuch-Jäger und zeigt der hinreißend tölpelhaft-neugierigen Maja Beckmann die Kunst der Pirsch. Die umwerfende Meret Landolt berichtet von ihrer Kindheit auf dem Dorf und den Hänseleien, die sie wegen ihrer verkrüppelten Hände ertragen musste, Cem Kirmizitoprak beschwert sich über die 80000 Treppenstufen in St. Gallen: "Für einen Behinderten im Rollstuhl ist das die Hölle." Und Vanessa Gasser erzählt von ihrer Arbeit als Altenpflegerin, von Würde und Zärtlichkeit. Jeder einzelne Mensch fesselt hier mit seiner Geschichte.

Das ist ein Bruchteil dessen, was hier erzählt wird. Die Aufführung ist extrem dicht, manchmal banal, oft grandios. Vor allem aber bilden die wahren Geschichten echter Menschen, zu denen ja dann letztlich auch die Schauspieler gehören, genau das ab, worauf das Exil-Ensemble 1939 zielte: umfassende Humanität.

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