Sibylle Bergs Roman "RCE":Hypernervös

Sibylle Bergs Roman "RCE": Es gibt kein Licht im Dunkel, nur Tod, Vernichtung: Sibylle Berg.

Es gibt kein Licht im Dunkel, nur Tod, Vernichtung: Sibylle Berg.

(Foto: Katharina Lütscher/Kiepenheuer & Witsch Verlag)

Schrille Sätze, Pointen ohne Unterlass, Bilder des Ekels und des Grauens: "RCE" ist ein großer Abgesang auf den Tech-Kapitalismus geworden.

Von Miryam Schellbach

Manchmal scheitert eine Revolution daran, dass die Menschen nicht gerettet werden wollen. So war es in "GRM Brainfuck", Sibylle Bergs letzter Dystopie, erschienen 2019, in der eine Gruppe urbaner, verarmter Digitalnerds in London den Endgeräten den Stecker zog, und gegen die Komplettüberwachung der Post-Brexit Gesellschaft mobilisierte. Nur waren da ihre Mitbürger schon dran gewöhnt, ihr Leben von Regierung und den Megakonzernen live mitgeschnitten zu bekommen und sogar ein bisschen froh, dass überhaupt einer zusah. Wenn aber keiner mitmacht, ist es nunmal keine Revolution.

In einem der Interviews, das Sibylle Berg zu "RCE", der Fortsetzungs-Dystopie gegeben hat, sagte sie jüngst, dass sie es nicht dabei habe belassen können, den Aufstand so sang- und klanglos scheitern zu lassen. Deshalb jetzt "RCE", "#RemoteCodeExecution", und das heißt: Die jungen Hacker starten einen zweiten Angriff auf den Kapitalismus mit dem Plan, durch einen Super-Hack von Bankenplattformen bis Mama-Blogs nacheinander alles ins Chaos zu stürzen.

"Die Menschen hatten die Übersicht über ihre Toten verloren"

Eine Revolution kommt im Dreierschritt: Analyse, Propaganda, Massenunruhen. Auf inhaltlicher Ebene wäre damit der Roman grob beschrieben. Für das sprachliche Rezept von "RCE" passt auch der Untertitel des letzten Buches, also von "GRM". Wieder bekommt man die Geschichte der revolutionierenden Freunde als "Brainfuck" geliefert: schrille, spitze Sätze, eilige Elipsen, Pointen ohne Unterlass, Bilder des Ekels und des Grauens. Eifrig aneinandergereihte Schlaglichter auf einen Turbo-Kapitalismus, in dem auch das letzte Restchen Sozialstaat wegprivatisiert wurde und selbst Totkranke in ihrer Not nur mit Bots kommunizieren, während sie zum Live-Erklärvideo selbst operativ die Hand an sich legen.

Womit man schon beim ersten Teil des Dreischritts angekommen ist, der Analyse. Der Roman spielt in einer europäischen Post-Bankencrash-Gegenwart, wesentliche Akteure sind aus der Realität wohl bekannt. Peter Thiel risikokapitalisiert auch hier, Elon Musk hat zwar noch nicht Twitter, aber dafür eine ganze Menge anderer Dinge gekauft, und Bill Gates Anlagestrategie hat ihn zum größten Grundbesitzer Amerikas befördert. Überhaupt lassen sich die meisten der mit Vornamen genannten Investoren auf der Forbes-Liste recherchieren, und wer es ganz genau wissen will, kann auch im angehängten Glossar von "Aladdin", dem Datenanalysesystem des BlackRock-Unternehmens, bis "Wirecard" das Alphabet des Tech- und Finanzkapitalismus nachschlagen.

Sibylle Bergs Roman "RCE": Sibylle Berg: RCE - #RemoteCodeExecution. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 704 Seiten, 26 Euro.

Sibylle Berg: RCE - #RemoteCodeExecution. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 704 Seiten, 26 Euro.

(Foto: Kiepenheuer&Witsch)

In Bergs apokalyptischem Finanzfeudalismus haben nur manche einen juristischen Personenstatus, die anderen vegetieren in Fußfesseln an den Rändern der Stadt, "Massen, die noch spuckend: Wettbewerb, Wettbewerb murmelten, wenn sie sich abends um die besten Pappunterlagen für ihre Nachtruhe stritten". Ein paar Runden Steuererhöhungen für die Armen und Steuerfreiheit für die Reichen, die Pulverisierung des Sozialetats und aller sozialen Sicherungssysteme haben die Tagelöhnergesellschaft potenziert. Wobei fünf Millionen der Depravierten bereits an Unterversorgung gestorben sind. "Die Menschen hatten die Übersicht über ihre Toten verloren. Die Leichen, die bei Fluchten, Erdrutschen, Hurrikanen, Bürgerkriegen, durch Kältewinter und Hitzesommer, durch Krankenhauskeime entstanden". Zwischen diesen Katastrophen jetten die Investoren, die Vorstände und Konzernbesitzer durch die Welt, wenn sie nicht gerade ihre sehnigen Körper trainieren oder Pornos mit Tieren gucken.

Inmitten der Szenen aus der kaputtkapitalisierten Gesellschaft gibt es aber - Stichwort Propaganda und Massenmobilisierung - auch eine Art Handlung: Geplant und ausgeführt wird eine groß angelegte Hackerstrategie, eine Gegenwehr der noch jüngeren, digital noch smarteren Cracks gegen die Kapital-Cracks. Ob die "Freunde" damit erfolgreich sind, wird sich im nächsten Buch der als Trilogie angelegten Reihe zeigen müssen, denn dieses bricht kurz nach dem "Ereignis" ab. Statt neuer Weltordnung schildert "RCE" indes Planung zum Umbruch, "Peer-to-Peer-Mixnet"-Strategien, Plattformanalysen, verklausulierte Abhörverfahren und überhaupt so einiges, das sich nur mit viel Selbststudium nachvollziehen lässt.

Aber wer im Nacherzählen versucht, eine Ordnung in die Dinge zu bringen, verpasst den Kern und damit den Grund, warum "RCE" kein mit Nerd-Vokabular getunter gewöhnlicher Revolutionsroman ist. Denn wie anders als in dieser scheppernden Überwältigungsästhetik soll sich Literatur zu einer unüberschaubaren finanzpolitischen Gemengelage verhalten, zu Crashs, die scheinbar niemand vorhersah und zu einem unumstrittenen ökonomischen Dogma, dass Wachstum immer ins Gute führt, während einem die Krisen um die Ohren fliegen?

Nicht einmal die Revolutionäre kriegen es hin, eine Freundschaft zu führen

Die Finanzökonomie hat selbst schon einen fiktionalen, spekulativen Charakter. Die Kurswerte einer Aktie etwa reagieren auf Erwartungen, und Erwartungen sind Vorhersagen, die sich auf eine Erzählung, auf Fiktion stützen. In der Finanzwelt werden nicht-reale Größen gehandelt, also etwa Lizenzen, die für Waren stehen, aber nicht die Waren selbst. Die Kunst, die Literatur, sie antwortet darauf im Gegenschlag mit einer Fiktionalisierung der Finanzwelt, mit einer Ästhetisierung des Zahlenkonkretismus. Elfriede Jelinek hat das so gemacht, als sie in "Die Kontrakte des Kaufmanns" Endlosmonologe über Finanzströme assoziativ verband, oder das Performance-Kollektiv "Rimini Protokoll", das zur Hauptversammlung der Daimler AG einlud.

Auch Sibylle Bergs Literatur hat eine stark theatrale Schlagseite. Sie hat bislang 27 Theaterstücke geschrieben, aber auch viele ihrer Romane lesen sich, als wären sie von Anfang an für die Bühne bestimmt. In "RCE" wirken die Pointenreiterei, die krasse Überbilderung, die gefühlt 500 Szenenwechsel gelegentlich albern oder größenwahnsinnig. Aber das ändert nichts daran, dass gerade die Überforderung das hypernervöse Gegenwartsgefühl nicht schlecht trifft.

Nur, was macht man nun mit den Erkenntnissen aus dem Roman? Es gibt kein Licht im Dunkel, nur Tod, Vernichtung, nicht einmal die Revolutionäre kriegen es hin, eine Freundschaft zu führen. Wahrscheinlich ist es so wie bei allen funktionierenden Tech- und Finanzdystopien: Man gruselt sich ein wenig, löscht vielleicht die ein oder andere App, installiert sie aber bald doch wieder. Mit anderen Worten: Im besten Fall, ja, das wäre was, verleiht eine sehr wichtige Universität der Autorin die Ehrendoktorwürde für ihre Verdienste um Krisenökonomie und angewandte Katastrophenpsychologie. Was wiederum eine drastische Steigerung des kulturellen Kapitals von Sibylle Berg wäre. Die dann gleich wieder weiterschreiben und auch diese Episode bei bester Laune genauso wahnwitzig erzählen könnte, wie es die sogenannte Realität eben ist.

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