"Mr. Morale & the Big Steppers" von Kendrick Lamar:Wie der Eiffelturm

"Mr. Morale & the Big Steppers" von Kendrick Lamar: "Du hast einen Generationenfluch gebrochen": Kendrick Lamar bei seinem Auftritt beim Coachella-Festival.

"Du hast einen Generationenfluch gebrochen": Kendrick Lamar bei seinem Auftritt beim Coachella-Festival.

(Foto: Valerie Macon/AFP)

Der Rapper und Pulitzerpreisträger Kendrick Lamar hat ein Doppel-Album veröffentlicht. Es ist schmerzhaft und sperrig. Man sollte ihm mit Respekt begegnen - aber ohne falsche Ehrfurcht.

Von Juliane Liebert

Große Penisse, um es mal klar zu sagen, sind aus weiblicher Sicht nicht so wünschenswert, wie von Rappern gerne behauptet. Manche Menschen machen sie auch unglücklich. Das ist hier wichtig, weil der Penis des Pulitzerpreisträgers Kendrick Lamar "so groß wie der Eiffelturm" ist, wie wir seit "Backseat Freestyle" wissen. Zumindest hat er in dem Song dafür gebetet, und wie könnte Gott ihm einen derart bescheidenen Wunsch verweigern? Folglich muss Kendrick Lamar sehr unglücklich sein, was wiederum unser Glück ist, denn er verarbeitet sein Unglück auf seinem fünften Studioalbum, "Mr. Morale & The Big Steppers".

Im Vergleich zum Vorgänger "Damn" nimmt Lamar den musikalischen Druck drei Stufen zurück. Der Sound ist transparenter, aber auch verfahrener. Chöre, zappelige Breakbeats, marodierende Geigen, Nine-Inch-Nails-Klavier. Dazu hat er noch Beth Gibbons von Portishead angeheuert, deren Stimme sogar einen Tiny-Tim-Song sinister klingen lassen könnte. Lamars eigene Parts sind schneller geworden, man versteht trotzdem jedes Wort. Er artikuliert wie immer sehr deutlich, fast distinguiert. Pop kommt nur verzerrt vor. Gelegentlich fragt man sich: Ist das noch ein Doppelalbum oder schon ein sehr elaboriertes Hörbuch?

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Drei Tracks stechen heraus, wenn man "Mr. Morale" das erste Mal hört. Der erste ist "We Cry Together". In dem Track weint keiner. Stattdessen haut Kendrick uns ein Florence + The Machine-Sample an den Kopf, dann beschimpfen seine Sparringspartnerin Taylour Paige und er sich gegenseitig rund fünf Minuten erbarmungslos, aber auch verlangsamt, slurry. "Fick deine Gefühle", sagt er.

Keiner der beiden scheint wütend zu sein, sie klingen eher betäubt. Er nennt sie eine falsche Feministin. Sie sagt, er persönlich sei durch sein toxisches Verhalten schuld an Trump, Harvey Weinstein und der Versklavung des gesamten weiblichen Geschlechts.

In "Auntie Diaries" setzt sich Lamar mit seinem früheren Hass auf Transmenschen auseinander

Es klingt, als hätten die beiden einander diese Vorwürfe schon öfter gemacht. Es klingt außerdem, als stammten die Beschimpfungen von Twitter oder von den Eltern oder als seien sie auf der Straße aufgeschnappt. Sie sind allgemeingültig und deswegen bedeutungslos. Beide Geschlechter vereint in der Ausweglosigkeit des gegenseitigen Hasses, mit dem sie eigentlich das gleiche Leid zu beschreiben versuchen.

Der zweite Song, der sofort hängenbleibt, ist "Auntie Diaries". Darin setzt sich Lamar mit seinem früheren Hass auf Transmenschen auseinander. Er erzählt die Geschichte einer Tante, die jetzt ein Mann ist: "You said ,Kendrick, ain't no room for contradiction / To truly understand love, switch position' / ,Faggot, faggot, faggot', we can say it together / But only if you let a white girl say Nigga." Es ist ein persönlicher Song, der einige Regeln der LGBTQ-Community bricht - zum Beispiel die, dass man Transmenschen nicht mit ihrem Geburtsnamen anspricht. Trotzdem ist es klar ein Pro-Trans-Song, und zwar der erste von einem großen Rapper.

Dann ist da noch "Mother I Sober", der Song mit Beth Gibbons, das Herzstück des Albums. In dem rauen, gefühlvollen Track erzählt Lamar von Kindheitstraumata, Untreue und sexuellem Missbrauch, während Gibbons Stimme unheilvoll und tröstend zugleich anwesend ist. "Anwesend", als sei der Song kein Song, sondern ein begehbarer Raum, in dem jemand von seinen dunkelsten Momenten berichtet. Bis die Tür sich wieder schließt.

Der Track endet mit einer Frauenstimme, die einem Kind sagt: "Du hast es geschafft, ich bin stolz auf dich / Du hast einen Generationenfluch gebrochen", bevor derselbe Chor, mit dem das Album begann, den Track abschließt.

"Mr. Morale & The Big Steppers" ist ein Album, das wehtut. Es ist nicht leicht zu hören, nicht leicht zu verdauen, es sperrt sich. Nicht nur vor dem Mainstream, sondern auch vor der eigenen Form, dem eigenen Genre, der Popmusik an sich. Sollte man es deswegen meiden? Natürlich nicht. Man sollte vorsichtig und behutsam damit umgehen. Mit Respekt, ein wenig Mitleid, aber ohne falsche Ehrfurcht. Nur dann kann man es wirklich genießen. Wie den Eiffelturm.

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