Militärische Lage in der Ukraine:Grüße von der Grenze

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Die ukrainische Armee schlägt die Invasoren bei Charkiw bis hinter die russische Grenze zurück. Aber gewonnen ist der Krieg noch lange nicht.

Von Nicolas Freund, München

Vielleicht wird das Bild einmal zum Symbol der Wende im Krieg in der Ukraine - ähnlich wie das Foto der Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg auf der Insel Iwo Jima die amerikanische Flagge aufstellten: Ukrainische Truppen sollen bei Charkiw, im Nordosten des Landes, bis an die russische Grenze vorgestoßen sein und damit zumindest in dieser Region die russischen Invasoren vollständig von ukrainischem Staatsgebiet vertrieben haben. Die Soldaten posieren um einen Grenzpfosten in den Nationalfarben der Ukraine und trotz der schweren Bewaffnung wirkt das Foto eher, als hätten sie gerade gemeinsam einen Berggipfel erklommen.

Es ist nicht die Freude von Eroberern, die aus den Gesichtern der Männer spricht, sondern Erleichterung. In sozialen Netzwerken verbreiteten Nutzer auch ein Video, das die Soldaten kurz vor dem entscheidenden Moment zeigt. Sie schleichen mit dem Pfosten durch einen Wald, hetzen über ein Feld, platzieren die Grenzmarkierung und posieren dann schnell für das Foto.

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Die Aktion ist symbolisch, man könnte von Propaganda sprechen. Doch der Rückzug der russischen Truppen aus der Gegend um die Stadt Charkiw ist nur einer der jüngsten Erfolge der ukrainischen Armee. Vor einigen Tagen sollen ukrainische Streitkräfte mit Drohnen und Artillerie bei Sjewjerodonezk russischen Truppen sehr schwere Verluste zugefügt haben, als diese gerade einen Fluss überquerten. Ein Durchbruch Russlands an der Front im Osten scheint damit immer unwahrscheinlicher zu werden, die Stadt Charkiw ist nun wieder sicher vor dem Beschuss durch russische Artillerie und auch nahe der Stadt Sumy soll gerade erst ein russischer Angriff abgewehrt worden sein.

Zum Zustand der ukrainischen Armee fehlen offizielle Auskünfte

Die Gegenoffensive "könne nicht mehr gestoppt werden", sagt Wadim Denissenko, ein Berater des Innenministeriums in Kiew, die ukrainische Armee würde den russischen Truppen in den Rücken fallen. Ob es so kommt, ist offen, mit Aktionen wie dem Grenzfoto wollen die ukrainischen Streitkräfte aber schon mal zeigen, dass sie nicht nur Angriffe abwehren, sondern auch besetzte Gebiete zurückerobern können. Die hektischen Bewegungen und suchenden Blicke der Männer in dem Video erzählen jedoch auch, dass sie sich in der Gegend noch nicht wirklich sicher fühlen. Denn im Falle der Region um Charkiw ist es so, dass die ukrainischen Gegenangriffe auch deshalb erfolgreich waren, weil sich die russischen Truppen von dort zurückgezogen haben.

Moskau scheint sich militärisch längst auf die Separatistenregionen um Luhansk und Donezk zu konzentrieren und wegen der hohen Verluste der russischen Armee dort alle verfügbaren Kräfte zusammenzuziehen. Experten warnen, die Rückeroberung aller von Russland besetzten Gebiete wäre ein Kraftakt, der die ukrainische Armee wahrscheinlich überfordern würde. Es ist auch nicht bekannt, wie hoch die Verluste der Verteidiger in dem Konflikt bisher waren. Allein die Tatsache, dass offizielle Stellen in der Ukraine zu dem Thema keine Auskunft geben, könnte bedeuten, dass auch die ukrainische Armee nicht mehr im allerbesten Zustand ist.

Und Russland meldete seinerseits ebenfalls regelmäßig militärische Erfolge, zuletzt den Abschuss von drei ukrainischen Kampfjets. Anders als die kämpferischen Ansagen aus dem ukrainischen Innenministerium klingt auch Serhij Hajdaj, Gouverneur der Region Luhansk. Er sagte, Russland versuche weiterhin, die Stadt Sjewjerodonezk einzunehmen, wo zehn Menschen durch Beschuss getötet worden seien, und in den Separatistengebieten sei die Generalmobilmachung ausgerufen worden. Die Ukraine hat Schlachten gewonnen, aber der Krieg geht weiter.

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