Ukrainisches Tagebuch (XXXVI):Angst vor den Lokalnachrichten

Ukrainisches Tagebuch (XXXVI): Ihre eigene Katze ist kulinarisch weniger verwöhnt: Oxana Matiychuk.

Ihre eigene Katze ist kulinarisch weniger verwöhnt: Oxana Matiychuk.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Vor dieser Rubrik, in der die Gefallenen aufgelistet werden, hat unsere Autorin die größte Angst: das ukrainische Tagebuch.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Der dritte Maidonnerstag hat in der Ukraine eine besondere Optik: Es ist der Tag des ukrainischen Stickhemdes. Entstanden als lokale Initiative Studierender der Universität Tscherniwzi 2006, wird es inzwischen landesweit und über die Grenzen hinweg getragen. Das Stickhemd ist ein wichtiger Teil der ukrainischen Identität, Muster, Ornamente, Schnitte und Farben sind regional sehr verschieden, an diesem Tag kann man sie alle bewundern. Vereinzelt sieht man an Menschen sogar alte Hemden, handgemacht aus Hanfstoffen (so eines haben wir auch von unserer Oma) mit archaischen Stickmustern, ansonsten einfache und aufwendige, bunte und schwarz-rote, die Vielfalt ist groß. An diesem Donnerstag finden auch viele Benefizveranstaltungen statt, bei denen Geld für die ukrainischen Streitkräfte gesammelt wird. Auch die Studentenschaft macht ein vierstündiges Konzert im Park gegenüber dem Hauptgebäude der Universität. Die kleine Grünanlage ist ein beliebter Ort vor allem für Eltern mit Kindern und junge Leute.

Ansonsten ist dieser Donnerstag der 85. Kriegstag. Mit Nachrichten, wie sie an einem Kriegstag sein können. Meine Bekannte M., die eigentlich meine erste Chefin war, weiß, dass ich bald nach Deutschland fahre, und kommt vorbei, um mir ein paar Geschenke für unsere gemeinsamen Freunde zu übergeben. Ihr Sohn ist seit dem Beginn des Krieges an der Front, im militärischen Nachrichtenwesen. Er war bereits 2014 im sogenannten Anti-Terror-Einsatz in Donbass, wurde bei Luhansk schwer verletzt. Jedoch ist er einer, für den sich die Frage nicht gestellt hat, ob er auch jetzt gehen würde. Wo genau er sei, darf er nicht sagen. Zurzeit bei Mykolajiw. Was genau er mache, kann er bei seinen sehr seltenen Telefonaten ebenfalls nicht erzählen. Es gehe ihm gut. Auf die Nachfragen bei den Videoanrufen sagt er, sie oder sein Vater sollen sich mal so stellen, dass er sehen kann, ob kein Staub auf den Möbeln liege. Seine Mutter passe doch penibel auf, dass es in der Wohnung stets sauber ist. Darum sollen sie sich kümmern, nicht um ihn. Immerhin behält er seinen Sinn für Humor. Dann nennt M. zwei Namen von gefallenen Soldaten, die letzte Woche bestattet wurden. Ob ich das mitbekommen habe. Ja, habe ich. Beide waren von seiner Einheit, sagt sie.

Der Staat versagt nach wie vor an vielen Stellen. Aber der Staat, das sind immer konkrete Menschen

Der Leiter des International Office S. erzählt von seinem Telefonat mit dem Kollegen K. aus der Universität Sumy. K. berichtet von seiner Fahrt nach Ochtyrka, einer Kreisstadt in dieser Region, die rund 50 000 Einwohner zählt. Genauer gesagt, zählte. Ochtyrka wurde schonungslos bombardiert, schätzungsweise 85 Prozent aller Gebäude sind zerstört. S. zeigt Fotos, die er vom K. bekommen hat. Lauter "militärische Objekte" in der Grenznähe zu Russland, die sich geschickt als Wohnhäuser und Schuppen getarnt haben. Doch die "Befreier" aus dem nördlichen Nachbarland sind schlau, erkannten natürlich sofort die Gefahren, die davon ausgingen, und haben mit Bomben und Raketen nicht gespart. K. erzählt außerdem, dass er mit seinem Bus Lebensmittel mitbrachte und mit Verwunderung feststellte, dass in einem Verwaltungsgebäude viele Hilfsgüter waren, von denen viele im Ort gebliebene Einwohner nichts wussten. Also sei er einfach von Haus zu Haus gefahren und habe verteilt, was er hatte. "Siehst du", sagt S. zu mir, "es ist genau das, was man so oft hört: Staatliche Stellen sind nicht immer effizient in der Logistik. Viel besser ist dagegen, wie wir es tun: die Hilfsgüter an Bekannte und Freunde abgeben, weil sie dann garantiert bei Bedürftigen ankommen."

Diese Schlussfolgerung ist leider eine, die ich teilen muss. Der Staat versagt nach wie vor an vielen Stellen. Aber der Staat, das sind immer konkrete Menschen. Man kann nur hoffen, dass sie aus Unfähigkeit versagen und nicht willentlich. Beides ist in einem Land mit Kriegsrecht schlimm genug. Illusionen sind jedoch nicht angebracht: Es gibt genug Menschen, die sehr wohl willentlich etwas tun oder eben unterlassen. Sonst würden nicht (nachweislich) die Hilfsgüter auf den Märkten oder Schutzwesten in einem Baumarkt in Lwiw verkauft werden. Das sind Fälle, in denen die Anwendung des Kriegsrechts in Strafprozessen und eine entsprechende Urteilssprechung aus meiner Sicht durchaus angemessen wäre.

Am Abend erreicht mich dann eine weitere sehr traurige Nachricht. Meine Schwester schreibt in dem Chat einen kurzen Satz: "O.s Sohn ist gefallen." Diese Nachricht will ich nicht glauben. O. ist ihr Lehrstuhlkollege, Mathematikdozent, sein Sohn ist gerade 23 Jahre alt geworden. Vor einer Woche habe ich ihm noch Geld überwiesen, eine Spende meiner Mutter für ein Wärmebildgerät. Der junge Mann war bei Charkiw. Nun wird sein Name in den lokalen Nachrichten auftauchen, in der Rubrik, vor der viele, wie ich auch, die größte Angst haben: "Heldenhaft im Kampf für sein Heimatland gestorben".

Oxana Matiychuk kommt am 29. Mai ins Münchner Lustspielhaus - und Iris Berben liest aus dem "Ukrainischen Tagebuch". Alle Infos auf www.sz-erleben.sueddeutsche.de

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