Boxtraining für Geflüchtete:"Weil es Sport ist"

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Waleri Weinert (links) war Lehrer in Russland. Nun trainiert er Kinder und Jugendliche vieler Nationalitäten in Geretsried. Unter ihnen auch Nikita (rechts), der erst vor Kurzem aus der Ukraine geflohen ist. Der Krieg spielt beim Sport keine Rolle. (Foto: Harry Wolfsbauer)

In Geretsried boxen junge Russen und Ukrainer im Verein "Edelweiß" von Waleri Weinert miteinander. Der Krieg tritt dabei für eine Weile in den Hintergrund, auch wenn er nicht vergessen ist.

Von Marie Heßlinger, Geretsried

In den Boxring im Gewerbegebiet in Geretsried steigen ein Russe und ein Ukrainer. Der Ukrainer tippelt mit den Füßen, schlägt zum Aufwärmen ein paar Mal mit seinen dicken Handschuhen in die Luft. Der Russe geht auf ihn zu, stupst ihn mit leichten Schlägen wie zur Provokation auf Schulter und Bauch. Der Ukrainer schlägt zurück, doch der Russe wehrt mit seinen roten Handschuhen ab. Dann holt der Russe blitzschnell aus, trifft den Ukrainer sachte im Gesicht. Beim nächsten Schlag jedoch duckt der Ukrainer sich unter seinem Arm weg. Anerkennend nickt der Russe. "Yes, I am already fighting with Russian boys and I am not angry at them", sagt der Ukrainer - "Ja, ich kämpfe schon mit russischen Jungs und ich bin nicht wütend auf sie". Der 17-jährige Nikita ist aus seiner Heimatstadt Odessa am Schwarzen Meer geflohen. Er trägt Goldkette und schaut zu Boden, wenn er spricht. "Und mein Trainer ist auch aus Russland."

Waleri Weinert ist 61 Jahre alt und hat in Russland gelebt. Trotzdem ist es eigentlich falsch, den Trainer als Russen zu bezeichnen. Seit 24 Jahren engagiert er sich in Geretsried als Boxlehrer. Er bringt Kinder und Jugendliche vieler Nationalitäten zusammen, vermittelt ihnen Halt, Gemeinschaft, Selbstwirksamkeit. In Russland war Weinert Lehrer, in Deutschland wurde sein Berufsabschluss nicht anerkannt. Seitdem arbeitet er tagsüber in einer Fabrik, danach kümmert er sich um die Integration von Kindern. "Eritrea, Südafrika, Israel ... die ganze Welt ist hier vertreten", sagt Weinert. "Nie haben sie gestritten." Kann Boxtraining für Frieden zwischen Russland und der Ukraine sorgen? Weinert schüttelt den Kopf. Seine eigenen Eltern kamen aus der Ukraine. "Dort wird kein Frieden sein. Zu viel Blutvergießen." Er schaut auf seine Sportschuhe, die unter der schwarzen Jogginghose klein aussehen. "Dort vergisst keiner. Das ist zu weit gegangen, diese Brutalität."

Der 61-Jährige klatscht in die Hände. Zehn Kinder scharen sich um ihn. Das jüngste von ihnen ist sieben, das älteste 13 Jahre alt. Sie haben ein Zirkeltraining gemacht und dann dem Duell zwischen Weinert und seinem älteren Schüler zugeschaut. Ohne ein Wort weist der Box-Coach sie mit dem Zeigefinger an, sich im Halbkreis zu positionieren. "Das Spielchen heißt: schnelle Beine", sagt Weinert und zeigt, wie es geht. In Zweierpaaren tippeln die Kinder in kleinen Schritten voreinander hin und her und versuchen, ihrem Gegenüber auf die Füße zu treten. Die Luft im Raum ist warm und feucht, sie riecht nach Teppichboden und Schweiß.

Weinert klatscht. 20 Situps. Wieder in Zweierpaaren. Es folgt ein Geschicklichkeitsspiel, wieder die Situps, und noch eine Bauchmuskelübung. Und schließlich gehen sie an die Gewichte. Vier-Kilo-Hanteln heben die meisten Kinder hoch. Ein Mädchen mit blonden Locken stemmt sein Gewicht, streckt die Zunge zum offenen Mund heraus und lässt sich auf den Boden sacken. "Andere Hand, los!", ruft Weinert den Kindern zu. Langsam steht das Mädchen wieder auf und schaut über die Schulter. Ihre Mutter steht steht schon an der Scheibe, um sie abzuholen.

Frosias Mutter ist barfuß, trägt ein Blumenkleid und zwei kurze Zöpfchen. Frosia lehnt sich an sie, als sie nach dem Training mit Weinert spricht. Vor anderthalb Monaten sind Frosia und ihr Bruder zum ersten Mal ins Training gekommen. Anders als andere Eltern war ihre Mutter nicht misstrauisch gewesen. "Wo ist der Haken?", fragten viele Mütter, als Weinert sie zum kostenlosen Training einlud. Die Ausrüstung fürs Boxen ist teuer. Doch das Projekt von Weinerts Verein Edelweiss hat einen Zuschuss von insgesamt 3000 Euro vom Tölzer Landratsamt bekommen. Für rund ein halbes Jahr kann er Kinder aus der Ukraine so kostenlos trainieren. Frosia und ihr Bruder kamen schon, als es die Förderung noch nicht gab. Seit der Förderbescheid im Mai kam, haben sich aber noch weitere Kinder und Jugendliche aus der Ukraine im Training angemeldet.

In Weinerts Kindergruppe sind nun drei Russen und zwei Ukrainer, ein Grieche, zwei Kinder aus Kasachstan und eines aus Deutschland. Dienstags und donnerstags trainieren sie zusammen. Ob es jetzt ein Unterschied ist, mit einem Russen zu boxen? "Nein", sagt Matvey, der zehn Jahre alter Bruder von Frosia. Was ihm das Training bringt? Matvey schweigt. Seine Schwester zu verteidigen?, fragt ihn die Mutter auf Ukrainisch. Die müsse man nicht verteidigen, die könne das selber. Die Mutter und Weinert lachen.

Die Jüngeren aus dem Sportclub Edelweiss schauen zu, wie die Älteren das Boxen üben. Auch unter ihnen sind Geflüchtete aus der Ukraine, ebenso wie Russen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Als der Krieg losging, hat Weinert keine guten Erfahrungen gemacht: In seinem Auto am Rückspiegel hing ein Anhänger mit Boxhandschuhen in russischen Farben. Ein Mann forderte ihn an der Tankstelle auf, die Scheibe runterzulassen. Er deutete auf den Anhänger und fuchtelte wütend umher. "Ich hab ihn nicht verstanden", sagt Weinert. "Er hat Bayrisch gesprochen." Aber die Anhänger hat Weinert danach lieber abgehängt.

Seine Schüler haben so etwas hingegen nicht erlebt. Nach dem Training kommt Ruslan zu Weinert, er hebt zum Gruß die Hand. Ruslan hat russische Eltern. Der 14-Jährige sieht ungewöhnlich erwachsen aus für sein Alter, vier Mal in der Woche kommt er zum Trainieren. Dienstags und donnerstags geht er zusammen mit den anderen Jugendlichen in den Fitnessraum, während die Kleinen Training haben, montags und mittwochs wird er selbst von Weinert trainiert. "Krieg ist scheiße, halt", sagt Ruslan, doch er könne ja nichts dafür. "Was soll ich dagegen machen? Wir können gar nichts machen." Auch in der Schule sei er nicht darauf angesprochen worden, beim Boxen schon gar nicht. Der Sport sei gute Ablenkung. Von der Schule, vom Stress, von allem.

Ruslan ist mit Nikita aus der Ukraine zusammen in einer Trainingsgruppe. Er fühle positive Emotionen, wenn er Sport treibe, sagt Nikita. Nachdem er aus dem Boxring gestiegen ist, geht er zu den anderen in den Fitnessraum. "Ich bin froh, mit ihnen zu trainieren", fährt er auf Englisch fort. "Because it's sport." Weil es Sport ist.

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