Innere Sicherheit:Verfassungsschutz warnt vor Verschwörungsideologen

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Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang und Bundesinnenministerin Nancy Faeser. (Foto: John MacDougall/AFP)

"Demokratiefeinde" im Visier: Erstmals berichtet die Behörde auch ausführlich über die Querdenker-Szene als eigenes Phänomen. Rechtsextreme verzeichnen Zulauf, der Islamismus hingegen verliert Anhänger.

Von Ronen Steinke, Berlin

Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt in seinem neuen Verfassungsschutzbericht erstmals das Milieu der Verschwörungsideologen als eigenständiges extremistisches Phänomen auf. Dabei gehe es dem Inlandsgeheimdienst nicht darum, Kritik etwa an der Corona-Politik zu brandmarken, betonte der Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang bei der Vorstellung des Berichts am Dienstag. Das Interesse des Dienstes gelte vielmehr allein den "Angriffen auf die Demokratie", die etwa in einschüchternden "Hausbesuchen" bei Politikern bestehe.

Seit April 2021 führt der Verfassungsschutz ein neues sogenanntes Beobachtungsobjekt, das er "Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates" nennt. Die Gewalt aus diesem Milieu, so führte Haldenwang aus, gipfelte im vergangenen September in der Tötung eines Tankstellenmitarbeiters, der lediglich auf die geltende Maskenpflicht hingewiesen hatte. Wie groß die Zahl der Anhänger dieser heterogenen Szene ist, dazu gebe es jedoch noch immer keine Einschätzung.

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Die Geschwindigkeit, mit der sich Querdenker radikalisieren, beunruhigt den Chef des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen. Ein Gespräch mit Burkhard Freier über eine Szene, die bleiben wird - und mit Aufklärung kaum zu erreichen ist.

Interview von Ronen Steinke

Rechtsextreme gewinnen Anhänger

Anders ist dies bei den herkömmlichen Extremismus-Kategorien, zuvorderst beim Rechtsextremismus. Das sogenannte Personenpotenzial im rechtsextremistischen Spektrum sei binnen eines Jahres um etwa 1,8 Prozent auf nun 33 900 Menschen angestiegen, heißt es im neuen Verfassungsschutzbericht. Dieser leichte Anstieg habe nichts damit zu tun, dass das Bundesamt inzwischen die AfD als Verdachtsfall im Bereich des Rechtsextremismus einstuft. Denn der Bericht deckt nur die Entwicklung im Jahr 2021 ab, und die Partei darf erst seit einem Gerichtsurteil von März 2022 in Gänze als Verdachtsfall eingestuft werden.

Versuche von Rechtsextremisten, die Corona-Pandemie und die Flutkatastrophe im Juli 2021 zur Gewinnung von Sympathisanten zu nutzen, waren nach Einschätzung des Verfassungsschutzes nur punktuell erfolgreich. Sorge bereite aber, dass die in den USA entstandene, rechte "Siege"-Ideologie (Englisch für: Belagerung) an Bedeutung gewinne - gerade unter Minderjährigen, die sich im Internet radikalisierten. Die Anhänger dieser Ideologie wollten "durch gezielte terroristische Akte gegen Infrastruktur, Angehörige von Minderheiten und demokratische politische Führungspersönlichkeiten" einen Zusammenbruch des "verhassten demokratischen Systems" herbeiführen.

Von einem Zuwachs um etwa 1,2 Prozent auf nunmehr 34 700 Menschen spricht der Verfassungsschutz auch beim Linksextremismus. Unter ihnen seien knapp 30 Prozent auch zu Gewalttaten bereit. Zunehmend professionell ist aus Sicht des Verfassungsschutzes die Aufklärung rechtsextremistischer Netzwerke und vermeintlicher Gegner durch sogenannte Antifa-Recherchegruppen. "Vereinzelt bestehen auch Kontakte in Verwaltungsstrukturen, über die rechtswidrig Personendaten oder vertrauliche Informationen erlangt werden können", heißt es im Jahresbericht.

Gefahr droht durch islamistische Einzeltäter

Das islamistische und dschihadistische Milieu in Deutschland ist nach Einschätzung der Kölner Behörde erstmals seit vielen Jahren leicht geschrumpft: um rund 1,5 Prozent auf 28 290 Menschen. An Attraktivität verloren hätten besonders salafistische Gruppen. Vor allem von dschihadistisch motivierten Einzeltätern und Kleinstgruppen gehe aber nach wie vor eine große Gefahr aus, warnte Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang.

Stark zugenommen haben schließlich laut dem Inlandsgeheimdienst die Aktivitäten ausländischer Dienste gegen deutsche Ziele. Hauptakteure sind demnach weiterhin Russland, China, der Iran und die Türkei. Russische Spionage war 2021 der Einschätzung zufolge vor allem auf Fragen der Energieversorgung und europäische Diskussionsprozesse zu den EU-Sanktionen fokussiert. Als Reaktion auf die verstärkten Aktivitäten Russlands hatte die Bundesregierung erst Ende April vierzig Mitarbeiter der russischen Botschaft ausgewiesen, die der Verfassungsschutz dem Geheimdienst zuordnete. Daran erinnerte Haldenwang am Dienstag.

Aber auch chinesische Cyberakteure versuchten seit einigen Jahren vermehrt, personenbezogene Daten, etwa von Telekommunikationsunternehmen, Versicherungen, Reiseunternehmen, Online-Diensten oder Behörden zu erlangen. Auch mit dem Ziel, Exil-Chinesen oder andere Kritik der chinesischen Politik "zu überwachen und zu verfolgen".

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