SZ-Serie "Ein Anruf bei ...":"In Duisburg sah Pinocchio aus wie die Figur aus einem Horrorfilm"

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Christian Metzler und Leonhard Hieronymi sind neun Tage lang durch Deutschland gereist, um so viele Pinocchio-Eisbecher wie möglich zu essen.

Christian Metzler und Leonhard Hieronymi sind neun Tage lang durch Deutschland gereist, um so viele Pinocchio-Eisbecher wie möglich zu essen.

(Foto: Christian Metzler)

Leonhard Hieronymi ist neun Tage durch Deutschland gereist, um 91 Pinocchio-Eisbecher zu essen. Ein Gespräch über zu viel Sahne, zu viele Streusel, zu viel Erdbeersoße, zu viel Zucker - und Doppelherz-Tabletten.

Interview von Marcel Laskus

Den Pinocchio-Eisbecher kennt jeder, der je als Enkelkind von den Großeltern in ein Eiscafé ausgeführt wurde. Aber vielleicht kennt ihn niemand so gut wie der Autor Leonhard Hieronymi und der Fotograf Christian Metzler. In neun Tagen reisten die beiden Schulfreunde durch alle 16 Bundesländer und taten in den Eiscafés namens Venezia, Rialto oder San Marco nichts anderes, als Pinocchio-Eisbecher zu verzehren. Mitgebracht haben sie von ihrer Reise den Bildband "Mostro - Pinocchio-Eis in Deutschland" und außerdem Erkenntnisse darüber, was einen guten Pinocchio-Eisbecher ausmacht und warum er womöglich vom Aussterben bedroht ist.

SZ: Sie sind 2528 Kilometer quer durchs Land gefahren, um in Köln, Münster, Oberursel, Elsteraue und vielen anderen Orten insgesamt 91 Pinocchio-Eisbecher zu essen. Wo Sie einmal dabei waren: Warum nicht gleich 92?

Leonhard Hieronymi: Wir wollten eigentlich 200 schaffen. Aber das hat logistisch nicht hingehauen, denn Christian hat noch einen echten Job und wollte für unsere Reise nicht seinen ganzen Jahresurlaub aufbrauchen. So haben wir in neun Tagen nur 91 Becher geschafft, obwohl wir zehn Stunden am Tag nichts anderes gemacht haben.

Auf Ihrer Reise mussten Sie irgendwann Doppelherz-Tabletten zu sich nehmen, um den Nährstoffmangel auszugleichen. Welche Schäden haben Sie davongetragen?

Ich habe ehrlich gesagt abgenommen und sah nach der Reise deutlich schmaler aus. Das hätte ich auch nicht gedacht. Wir haben uns ja eigentlich nur von Zucker, Wasser und Milch ernährt. Aber dadurch, dass wir nur diese drei Dinge zu uns genommen haben, hatten wir nie Zeit, etwas anderes zu verzehren. Bleibende Schäden haben wir nicht davongetragen. Vielleicht kommt das noch.

Wie ein Pinocchio-Eisbecher aussieht und schmeckt, weiß jeder. Wofür braucht es Feldforschung wie Ihre?

Der Pinocchio-Eisbecher ist so wunderbar figürlich! Jeder kennt ihn, aber jeder kennt wahrscheinlich eben nur den aus dem Eiscafé "Dolce Vita" in der Heimat - und nicht den zum Beispiel aus dem Café "NiceCream" in Leipzig oder Eiscafé "La Luna" in Koblenz. Weil es diese Vielfalt aber gibt, haben wir uns gedacht: Wir müssen dem Pinocchio-Eisbecher ein Museum errichten.

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Apfelschnitzer als Augen, nicht zu viele Streusel, wenig Sahne: Am besten schmeckte der Pinocchio-Eisbecher in der Gelateria "Gioia" in Friolzheim.

Apfelschnitzer als Augen, nicht zu viele Streusel, wenig Sahne: Am besten schmeckte der Pinocchio-Eisbecher in der Gelateria "Gioia" in Friolzheim.

(Foto: Christian Metzler)

Wie sieht der perfekte Pinocchio-Eisbecher denn nun aus?

So wie in der Gelateria "Gioia" in Friolzheim in Baden-Württemberg. Das Pinocchio-Eis dort hat Apfelschnitzer als Augenbrauen. Die beiden Eiskugeln sind nebeneinandergesetzt, sodass das Gesicht aus der Vogelperspektive erkennbar ist. Wichtig ist außerdem: gute Fruchtsorten. Nicht immer nur Vanille- oder Erdbeereis. Toll sind: Himbeer oder Zitrone. Außerdem wenig Sahne und wenig Streusel.

Und die anderen 90 Eisbecher?

Beim Pinocchio-Eis ist Deutschland relativ geeint. Es ist wirklich überraschend, dass die Eisbecher in Zeitz genauso aussehen wie in Bremen. Andererseits gibt es große Unterschiede bei der kreativen Arbeit, die in einen Eisbecher gesteckt wird. Manche geben sich viel Mühe, manche gar keine. Man denkt dann natürlich immer an das Kind, das vor einem lieblos gemachten Becher sitzt, und das macht einen manchmal traurig.

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Autounfall oder Süßspeise mit zu viel Erdbeersoße? Die Optik dieses Eisbechers in Vechta überzeugte die Tester eher nicht.

Autounfall oder Süßspeise mit zu viel Erdbeersoße? Die Optik dieses Eisbechers in Vechta überzeugte die Tester eher nicht.

(Foto: Christian Metzler)

Eis kann Kinder traurig machen?

Pinocchio-Eisbecher können auf Kinder einen erschreckenden Eindruck machen. Wir waren in Vechta in einem Eiscafé, da sah Pinocchio aus wie eine verunglückte Person, weil über das ganze Gesicht rote Erdbeersauce lief. In Duisburg sah Pinocchio aus wie die Figur aus einem Horrorfilm, das war wirklich schlimm. Aber am Ende spachteln Kinder das Eis natürlich trotzdem in sich rein.

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Ist das nicht dieser eine Fiesling aus dem neuen "Star Wars"? Nein, das ist nur Pinocchio aus Duisburg.

Ist das nicht dieser eine Fiesling aus dem neuen "Star Wars"? Nein, das ist nur Pinocchio aus Duisburg.

(Foto: Christian Metzler)

Diese Schaurigkeit beschreiben Sie im Buch an einigen Stellen. Womit erklären Sie sich diese Tristesse, ausgerechnet an einem Ort von Freude und Genuss?

Es gibt nicht viele Orte, an denen man so vielen einsamen Menschen begegnet wie in einem Eiscafé. Dabei ist ein Café - wie ein Kino - ein Ort, an den man normalerweise mindestens zu zweit geht. Uns hat erstaunt, wie viele ihren Eisbecher aber allein essen. Es sind viele alte und kranke Leute, aber auch Kinder, die dort allein hingehen. Es ist die zuckersüße Kälte, die die Leute dort hinzieht.

Einige Eisdielen hatten, wie Sie schreiben, "keine Ahnung oder keine Lust", einen Pinocchio-Eisbecher für Sie herzustellen. Ist Pinocchio ein Auslaufmodell?

Ja, das kann gut sein. In Memmingen gab es in einem Eiscafé einen Eisbecher namens "Dolce Phone". Also einen Eisbecher, der in einem Porzellanbecher in Handyform zubereitet war. Der Betreiber eines anderen Eiscafés hat den Pinocchio-Eisbecher immer noch auf der Karte, aber seit fünf Jahren hat ihn niemand mehr bestellt. Da war uns klar: Es könnte bald eng werden für klassische Kinderfiguren in Eisform wie Pinocchio. Umso froher sind wir, das Phänomen zu konservieren.

SZ-Serie "Ein Anruf bei ...": Leonhard Hieronymi, Jahrgang 1987, hat Philosophie, Informatik und Europäische Literatur studiert. Sein Debütroman "In zwangloser Gesellschaft" erschien 2020 bei Hoffmann und Campe.

Leonhard Hieronymi, Jahrgang 1987, hat Philosophie, Informatik und Europäische Literatur studiert. Sein Debütroman "In zwangloser Gesellschaft" erschien 2020 bei Hoffmann und Campe.

(Foto: Linda Rosa Saal)

Einige Eisdielen wollten Ihnen keinen Pinocchio-Becher zubereiten. Warum nicht?

Vermutlich hat es mit dem Preis zu tun. Genauso wie man als Erwachsener kein Kinderschnitzel bekommt, bekommt man im Eiscafé als Erwachsener leider nicht immer einen Pinocchio-Becher für 3,50 Euro serviert. Als Erwachsener soll man lieber den sehr teuren Amaretto-Becher bestellen. Ich glaube, das ist der einfache, traurige, ja, kapitalistische Grund.

Vermutlich haben Sie jetzt größeren Appetit auf Schweinsbraten als auf Eis.

Ich habe vor der Reise gern Eis gegessen, und das hat sich nicht geändert. Diese Kombination aus Kälte und Zucker, also kalter Zucker, das macht einfach süchtig. Noch süchtiger als Zucker ohnehin schon. Da kann ich nichts machen, da bleibe ich dabei.

Weitere Folgen der SZ-Serie "Ein Anruf bei ..." finden Sie hier.

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