Großbritannien:Sturheit statt Vernunft

Großbritannien: Die neuen Grenzkontrollen in Nordirland machen der gesamten Region zu schaffen. Die neuen Pläne der britischen Regierung machen es nicht besser.

Die neuen Grenzkontrollen in Nordirland machen der gesamten Region zu schaffen. Die neuen Pläne der britischen Regierung machen es nicht besser.

(Foto: PAUL FAITH/AFP)

Der Streit um das Nordirland-Protokoll offenbart, wo das Problem der britischen Regierung wirklich liegt: Es fehlt die Fähigkeit zum Kompromiss.

Kommentar von Michael Neudecker

Das Nordirland-Protokoll ist ein Thema für Technokraten, schon der Begriff klingt, als stamme er aus der Hölle für Politiknerds. Boris Johnson ist eher kein Politiknerd und sicher kein Technokrat, und man darf ruhig annehmen, dass er Diskussionen über das Nordirland-Protokoll hasst. Aber es hilft ja nichts, das Nordirland-Protokoll geht nicht von alleine weg, im Gegenteil. Es bleibt der Stachel in seiner Brexit-Haut, der sich so fies verhakt hat, dass er ihn nicht ziehen kann.

Wer recht hat im Dauerstreit um das Protokoll, die britische Regierung oder die EU, ist kaum zu beurteilen, dafür liegen die Erzählungen zu weit auseinander. Während Johnsons Regierung von mehr als 300 Verhandlungsstunden spricht, die ständige eigene Verhandlungsbereitschaft betont und beklagt, die EU sei zu unflexibel, ist von der EU zu hören, man sei regelrecht verzweifelt, weil London einfach auf keinerlei Vorschläge eingehe, teilweise noch nicht einmal darauf antworte. Kaum ein Thema aber zeigt gerade in diesen Tagen die grundsätzlichen Probleme von Johnsons Regierung klarer als das Nordirland-Protokoll.

Vor 18 Monaten rühmte sich Johnson, einen Deal abgeschlossen zu haben, der den Brexit endlich in das "Erledigt"-Postfach verschiebe. Zur gleichen Zeit aber wiesen selbst am Prozess Beteiligte darauf hin, dass man noch weiter hätte verhandeln sollen, denn nun werde das Gegenteil passieren: Weil im Protokoll festgelegt wurde, dass Nordirland beim Warenverkehr so behandelt wird, als gehöre es zur EU, aber eben irgendwo Zoll-Kontrollen stattfinden müssen, werde eine neue Grenze in der Irischen See entstehen, also im eigenen Land. Der Brexit wäre damit mitnichten "erledigt", für Nordirland würde der Zwischenzustand zum Problem. Genau so kam es. Ironie der Geschichte, dass gerade die Regierung, die damit wirbt, "wieder die Kontrolle über die eigene Grenze" zu erlangen, eine neue Grenze erschaffen hat, die kaum kontrollierbar ist.

Die Regierung nutzt das Thema, um gegen den Feind in Brüssel zu hetzen

Liz Truss, die für das Thema zuständige britische Außenministerin, tat auch am Dienstag wieder so, als hätten sich in den vergangenen 18 Monaten Schwierigkeiten ergeben, die nicht vorhersehbar gewesen seien. Deshalb hätte die britische Regierung keine andere Wahl gehabt, als ein neues Gesetz einzubringen, das es ihr erlaubt, das Nordirland-Protokoll einfach zu ignorieren. Das ist das Narrativ, das Truss und Johnson seit Wochen bedienen.

Gerade Truss wird dabei immer wieder vorgeworfen, ähnlich wie gelegentlich auch Johnson das Nordirland-Protokoll zu benutzen, um Stärke zu zeigen: der Basis zu demonstrieren, dass man dagegenhält, gegen den Feind in Brüssel. In Verhandlungen, heißt es, poche sie stets auf den eigenen Weg, statt über mögliche Kompromisse zu reden. "We need to act", sagte Truss am Dienstag in praktisch jedem Interview, das sie gab. Wir müssen handeln. Dabei bemühte sie sich, möglichst entschlossen zu wirken.

Die Kritik an der britischen Entschlossenheit war am Montag und Dienstag umfassend, auch eine Mehrheit der nordirischen Abgeordneten verurteilte das neue Gesetz. Möglich, dass die EU zu träge ist für schnellere Lösungen, das Nordirland-Protokoll aber entlarvt die britische Regierung umfassend. Wahrheit ist eben doch keine Frage des Narrativs. Seriöse Sachpolitik lässt sich nicht auf plakattaugliche Slogans verkürzen. Und Verhandlung ist, wenn beide Seiten miteinander reden. So lange, bis ein Kompromiss gefunden ist.

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