Großbritannien:"Are you crazy?"

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Boris Johnson bleibt und bleibt. (Foto: POOL/REUTERS)

Premier Boris Johnson denkt nicht an Rücktritt, egal was passiert. Schlechte Umfragewerte stören ihn schon gar nicht

Kommentar von Alexander Mühlauer

Für alle, die es nicht wahrhaben wollen, hat Boris Johnson noch mal klargestellt, woran er überhaupt nicht denkt: Rücktritt. Auf die Frage, ob er sein Amt nach einer Wahlniederlage an diesem Freitag aufgeben werde, antwortete er schon vor der Wahl: "Are you crazy?" Er hat Partygate überstanden, ein Misstrauensvotum seiner eigenen Partei, da wird ihn das Nachwahldesaster in zwei Unterhaus-Wahlkreisen doch nicht aus der Bahn werfen. Mögen andere an der Parteispitze ruhig zurücktreten, er macht einfach weiter.

Klingt verrückt? Nicht in Johnsons Welt. Die Frage ist nur: Lassen sich die Tories das noch lange gefallen?

Die Konservativen haben nach den verheerenden Kommunalwahlen im Mai nun eine weitere Demütigung erfahren. Einen Unterhaus-Wahlkreis verloren sie an Labour, den anderen an die Liberaldemokraten. Besserung ist nicht in Sicht, denn es verfestigt sich der Eindruck, dass der Premier eher mit sich selbst beschäftigt ist als mit den Herausforderungen des Landes. Im Fall von Johnson wäre das an sich nicht so schlimm, hätte er nicht ein Problem: Er, der begnadete Populist, ist nicht mehr populär.

Das Wirtschaftswachstum bricht ein, die Preise für Energie und Lebensmittel steigen

Johnsons Umfragewerte sind miserabel, und sie werden sich so schnell auch nicht verbessern. Schließlich vergeht kaum ein Tag ohne schlechte Nachrichten. Das Wirtschaftswachstum bricht ein, die Preise für Energie und Lebensmittel steigen massiv. Die Inflation ist so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr, die Bank of England rechnet mit einem Anstieg auf elf Prozent im Herbst. Der Frust im Land ist groß, viele Arbeitnehmer fordern jetzt mehr Lohn.

Ausdruck der Unzufriedenheit ist der größte Bahnstreik seit 30 Jahren. Und dabei wird es nicht bleiben. Zum Start der Sommerferien soll am Flughafen Heathrow gestreikt werden. Angestellte der Post und des Gesundheitsdienstes NHS könnten folgen. Schon jetzt ziehen britische Medien Vergleiche mit den 1970er-Jahren. Damals gab es eine Serie von Streiks, die 1978/79 zum "Winter der Unzufriedenheit" führten. Nun ist von einem "summer of discontent" die Rede.

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Johnson ist für den Anstieg der Lebenshaltungskosten nur sehr bedingt verantwortlich, schon gar nicht für den Hauptauslöser, Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Aber er ist dafür verantwortlich, die Folgen bestmöglich abzufedern. Er könnte den Kampf gegen die cost of living crisis zur nationalen Anstrengung erklären, so wie es ihm schon einmal mit der Corona-Impfkampagne gelungen ist. Doch daran scheint Johnson kein Interesse zu haben.

Anstatt als moderate Stimme zwischen Gewerkschaft und Bahnbetreibern aufzutreten, setzt Johnson auf Polarisierung. So richtig seine Sorge ist, dass ein zu hoher Lohnabschluss die Inflation weiter nach oben treibt, so falsch ist es, den Bahnstreik als "Labour's strike" zu verdammen. Mit seinem Verhalten zeigt Johnson einmal mehr: Er ist keiner, der vermitteln oder gar versöhnen will. Im Gegenteil, schließlich verdankt er seinen eigenen Aufstieg einer Politik der Spaltung, die im Brexit ihren Höhepunkt fand. Johnson dürfte so weitermachen, egal ob Arbeits- oder Kulturkampf.

Irgendwann wird jedoch der Zeitpunkt kommen, an dem die Tory-Abgeordneten entscheiden müssen, ob sie ihre Unterhaus-Sitze bei der nächsten Wahl am besten mit oder ohne Johnson verteidigen können. Die Sache ist nur: Sehr viele verdanken ihren Sitz eben diesem Mann.

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