Messerattentat von Würzburg:Das Leben danach

Messerattentat von Würzburg: Trauer um die Opfer: Mit Kerzen und Blumen gedachten die Würzburger der Opfer, die der Mann in einem Kaufhaus niedergestochen hatte.

Trauer um die Opfer: Mit Kerzen und Blumen gedachten die Würzburger der Opfer, die der Mann in einem Kaufhaus niedergestochen hatte.

(Foto: Daniel Karmann/dpa)

Ein Jahr ist das Messerattentat von Würzburg mit drei Toten und neun Verletzten nun her. Die Stadt gedenkt der Opfer und Hinterbliebenen. Währenddessen steht der Täter, der als psychisch krank gilt, vor Gericht.

Von Clara Lipkowski, Würzburg

Viermal war Abdiraham J. in Würzburg in psychiatrischer Behandlung, bevor er zum Täter wurde. Viermal ließen ihn die Ärztinnen und Ärzte wieder gehen, auch wenn sie es nicht wollten. "Wir haben ihm angeboten, dass er bleibt, aber er wollte nicht", sagt eine Ärztin am Freitag vor Gericht in Würzburg. Nicht untypisch für jemanden, der an einer paranoiden Schizophrenie leidet, meint ein Psychiater, ebenfalls im Gerichtssaal. Gut medikamentös eingestellt, beruhigter als bei seinen Einweisungen, verließ J. die Würzburger Einrichtung. Doch dann, am 25. Juni 2021, wurde er zum Mörder. Drei Menschen starben durch seine Messerstiche, 24, 49 und 82 Jahre alt, mitten in Würzburg, im Kaufhaus Woolworth. Neun weitere verletzte J. auf dem Barbarossaplatz davor, sechs von ihnen schwer.

Die Frage nach dem Warum beschäftigt die Menschen, Hinterbliebene, Opfer, Zeuginnen bis heute. Warum ein offenkundig psychisch kranker Mensch entlassen werden durfte. An diesem Freitag, Tag zehn im Prozess gegen J. vor dem Würzburger Landgericht, findet Psychiater Dominikus Bönsch dazu klare Worte: "Nachdem er sich deutlich gebessert hatte, absprachefähig war, wäre es Freiheitsberaubung gewesen." Die Hürden, einen Menschen gegen seinen Willen festzuhalten, sind in Deutschland hoch, sehr hoch, die Freiheit ein hohes Gut. Das wird in der Eventhalle, in der das Gericht aus Platzgründen tagt, deutlich.

Unscharf hingegen bleibt Abdirahman J. Der Mann sitzt in Fußfesseln neben seiner Dolmetscherin, die für ihn ruhig ins Somalische übersetzt. Er legt seine Stirn auf den Unterarm, schaut sie gar nicht mehr an. Dann legt er noch seinen anderen Arm in den Nacken, als wolle er sich verstecken. Er nimmt starke Medikamente, das ist bekannt. Dadurch hat sich sein Zustand verbessert. Aber wer ist dieser Mensch? Vermutlich 33, genau wissen es die Behörden nicht. Er ist aus Somalia nach Deutschland eingereist. Nach der Tat habe er in einer Klinik viel gebetet, sei aber nie missionarisch geworden, sagt ein Psychiater vor Gericht. Einmal habe er "Allahu Akbar" gerufen. "Aber das passte gar nicht zu ihm." Mitpatienten hätten ihn "instrumentalisiert". Und dann ist da noch das, was J. bei einer Visite nach der Tat gefragt haben soll.

Wie alt das jüngste Opfer war, wollte er wissen. Mit seinem Glauben sei ein Mord an Minderjährigen nicht vereinbar. Es ist einer der vielen verstörenden Momente im Gerichtsverfahren. Minderjährig, sagte er auf Nachfrage der Ärzte, sei ein Mädchen, das noch nicht menstruiert hätte. "Darauf sind wir nicht eingegangen", sagt der Psychiater.

Der gläubige J. habe auch mal geäußert, dass er Koranprofessor werden wollte. Dann habe er mit Wänden gesprochen. Dann mit einem Vogel. J. habe wiederholt, der deutsche Geheimdienst sei hinter ihm her. Deswegen und wegen all der Ungerechtigkeiten, die er in Deutschland erfahren habe, habe er handeln müssen, Gerechtigkeit wieder herstellen. "Hat er auch gesagt, wie?", fragt ein Anwalt der Nebenklage. "Extrem viele Menschen töten", sagt der Psychiater. "Das hat er so gesagt?" - "Ja."

Messerattentat von Würzburg: Der Angreifer steht inzwischen wegen Mordes und versuchten Mordes vor Gericht. Der Prozess dauert an.

Der Angreifer steht inzwischen wegen Mordes und versuchten Mordes vor Gericht. Der Prozess dauert an.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Während es an diesem Freitag im Gericht um die Zukunft von Abdirahman J. geht, laufen in der Stadt die Vorbereitungen für die Gedenkveranstaltungen. An diesem Samstag jähren sich die grauenvollen Taten zum ersten Mal. Der 25. Juni 2021 ist unvergessen in der lebendigen Main- und Weinstadt, jener Abend mitten im Sommer, mitten im Zentrum, unvergessen bei denen, die sich noch erinnern, wie sie bangten, weil sie ihre Nächsten nicht erreichten, nicht wussten, ob sie tot waren oder lebten. Oder bei denen, die sich um Opfer kümmerten, die in Blutlachen lagen. Nachdem J. bei Woolworth drei Frauen erstochen hatte, setzte er seine Attacke auf dem Barbarossaplatz fort. Couragierte Männer stellten sich ihm in den Weg, bis die Polizei kam. Viele der unfreiwillig Beteiligten werden am Samstag in der Marienkapelle zum ökumenischen Gedenkgottesdienst erwartet. Ein Jahr ist das Grauen her. Es ist Zeit, noch einmal gemeinsam zu trauern.

Ein Mädchen kauerte bei Woolworth in einem Versteck

Der 25. Juni hat ganz unterschiedliche Schicksale geprägt. Eine Frau ist wegen der Messerstiche dauerhaft gelähmt. Ein Mädchen hat mit elf Jahren seine Mutter verloren. Und da ist die Mutter, deren Tochter bei Woolworth in einem Versteck kauerte, als J. mit dem Messer, das er sich zuvor von einer Verkäuferin hatte zeigen lassen, loszog. Das Mädchen, gerade 13, rief verängstigt seine Mutter an, die alles am Handy mithörte. Bis die Polizei - ein Beamter hatte da den Täter am Platz per Oberschenkeldurchschuss niedergestreckt - das Kaufhaus sicherte und die Tochter fand. Die Mutter trifft man heute bei fast jedem Gerichtstermin. Sie will verstehen. Warum J. zustach. Was er für ein Mensch ist. Und ob er schuldfähig ist. Das ist die Kernfrage des Prozesses, der die Täterschaft gar nicht infrage stellt, sondern das gerechte Strafmaß sucht. Die Mutter der damals 13-Jährigen will bis zum Ende dabei sein - und auch diesen Samstag zum Gottesdienst kommen.

Oder da ist der Kellner Helmuth Andrew, der am Barbarossaplatz den Täter mit einem Stuhl in Schach hielt. Er werde wie üblich im Juliusspital, einer Würzburger Traditionsweinstube, arbeiten, sagt er, wolle aber zur Gedenkminute um 17 Uhr rausgehen. Er weiß noch, wie damals panische Leute ins Lokal stürmten, er aber rannte raus. Und da ist Chia Rabiei, dessen Anwalt bei Gericht nach der Wiederherstellung der Gerechtigkeit gefragt hatte. Rabiei hatte J. mit einem Rucksack abgelenkt. Rabiei und sein Anwalt kommen auch am Samstag, natürlich.

Um 17 Uhr vor einem Jahr hatte J. den Woolworth betreten. Keine zehn Minuten hatte das Attentat gedauert. Im Gedenken an die Opfer wird nun ein Kranz niedergelegt, der Oberbürgermeister wird Helfern ehren, auch Chia Rabiei.

Eine 24-Jährige kam ums Leben, als sie für eine Hochzeit einkaufen ging

Und die Bewältigung geht weiter. Helferinnen von "Würzburg zeigt Herz" sammeln Spenden. 350 000 Euro haben sie zusammen, für das Mädchen, das Halbwaise wurde, und Spenden für weitere Opfer und Helfer. "Wir möchten nicht wegschauen", sagt Judith Jörg, 3. Bürgermeisterin und 2. Vorsitzende des Vereins. Sie finanzieren auch Therapien von Traumatisierten. Und selbst in Partenstein, etwa 50 Kilometer entfernt, sind sie in Gedanken in Würzburg. Aus dem unterfränkischen Ort kam eines der Todesopfer, eine Studentin, gerade 24 Jahre alt. In Würzburg wollte sie für eine Hochzeit einkaufen. "Die Tat", schreibt der 3. Bürgermeister Dirk Mehrlich, "schockiert uns noch heute."

So oder so, dieser Samstag wird Würzburg bewegen, sechs Demos sind angemeldet, unter anderem von der AfD. Die Polizei appelliert, sich pietätvoll zu verhalten. Am Abend will die Mutter, die ihre Tochter in ihrem Versteck zu beruhigen versuchte, mit ihr zum Benefizkonzert. Die Tochter traute sich lange nicht allein in die Innenstadt. Zum Konzert gehen sie nun gemeinsam. Es sind die kleinen Schritte, die die Menschen in Würzburg vorwärts machen - zurück in eine Art Normalität.

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