Wimbledon-Start:Nach dem Piep eröffnet sich eine neue Welt

Wimbledon 2022: Rafael Nadal auf dem Trainingsgelände

Ende der Übungsschicht: Rafael Nadal trainiert gerne etwas abgelegen im Aorangi Park. Nahbar ist er trotzdem.

(Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

Aorangi Park, so heißt das Trainingsgelände des All England Club, das nur Profis und beim Turnier beschäftigte Arbeitskräfte betreten dürfen - nirgends ist die Dichte an Tennisprominenz größer als hier.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Es macht "Piep!", bevor man das Gelände mit der größten Dichte an prominenten Tennisprofis betritt. Der Security Check muss sein, auch wenn alle, die schon auf der Anlage des All England Clubs sind, bereits eine Kontrolle am Eingang über sich hatten ergehen lassen müssen. Das Trainingsgelände des berühmten Tennisturniers ist noch mal ein ganz eigener Sicherheitstrakt.

Rafael Nadal muss seine Akkreditierung vorzeigen. Serena Williams. Trainer, Physios, Agenten, Fotografen, Reporter. Darf man dann rein, nachdem das "Piep" von einem grünen Licht auf dem Scanner begleitet wurde, eröffnet sich eine neue Welt. Der Aorangi Park. Bis 1981 residierte hier der London New Zealand Rugby Football Club, ehe er wich. Aorangi ist die Maori-Bezeichnung für den Mount Cook, den höchsten Berg Neuseelands. Nun bringen sich die Racket-Schwinger an diesem speziellen Ort in Form.

Das gesamte Übungsareal ist klein und irgendwie doch riesig zugleich. Weil es so verschachtelt ist. Und es bietet etwas, das den Zuschauern, die von Montag an auf die Anlage dürfen, auch während des Turniers verborgen bleiben wird: Profis bei der ungezwungenen Arbeit. "Hier marschieren ständig Stars ein und aus", sagt eine Ordnerin in blauer Uniform. Die nette Frau passt auf, dass jeder nur dorthin geht, wohin er laut Akkreditierung darf. "Ich habe hier eigentlich den besten Arbeitsplatz", sagt sie, "sie kommen ja alle bei mir vorbei." Unten, auf dem in Terrassen angelegten Gelände, spielt an diesem sonnigen Sonntag die dominierende Spielerin der Szene, die Polin Iga Swiatek, mit der früheren French-Open-Siegerin Barbora Krejcikova. Für die Ordnerin schon kein großes Ding mehr.

Kyrgios schlurft mit Engelsgesicht vorbei, rechts steht Djokovics Agentin, links der kauzige Vater von Camila Giorgi

Man kriegt ohnehin eine Halsverrenkung. Gerade schlurft Nick Kyrgios, diesmal mit einem Engelsgesicht, vorbei. Rechts plaudert Elena Cappellaro, die Agentin von Novak Djokovic. Der kauzige Vater der Italienerin Camila Giorgi, dessen graue Haare zu Berge stehen, als hätte er drei Dosen Haarspray verwendet, schreitet wie immer konfus herum. Es herrscht ein Wuseln und Gedränge, zumindest zu den Stoßzeiten am Mittag. Aber kein Chaos. Alles hier hat seine festen Abläufe. Wie in einem Ameisenhaufen weiß jeder, was zu tun ist.

Am Vorabend beantragen die Profis - meistens übernehmen die Trainer diesen Job -, wann sie auf welchem Platz trainieren möchten. Die Stars haben Vorrechte, und das wird auch respektiert. Der Spanier Nadal, der gerade bei den French Open seinen 22. Grand-Slam-Titel errang, wählt meistens Platz 1 oder 2. Der ist links versetzt und etwas versteckt. Das mag er. Aber, das versichert Christopher Kas, der sich auch das Training Nadals anschaut, "er hat null Allüren". Er schwärmt von Nadal: "Er hat eine Aura, die man sofort spürt. Er strahlt Präsenz, Stärke und dabei völlige Nahbarkeit aus", sagt Kas, der in Wimbledon das deutsche Talent Jule Niemeier coacht.

Der eloquente, immer gut gelaunte Kas, der fürs Fernsehen oft bei Tennisturnieren kommentiert, kennt hier quasi jeden. Gerade klatschte er den US-Profi John Isner ab. Manchmal schreibt man ja, der ist 2,08 Meter groß. Aber wenn man direkt vor ihm steht, muss man sagen: Der ist wirklich groß! Kas zeigt hinüber zu einem weiteren Mann Marke Eichenschrank: "Das ist Aleksander Barkov, einer der besten Eishockeyspieler in der NHL. Er ist mit Isner hier."

Wimbledon-Start: Ach, du auch hier? US-Open-Siegerin Emma Raducanu (Mitte rechts) umarmt ihre britische Kollegin Katie Boulter im Aorangi Park

Ach, du auch hier? US-Open-Siegerin Emma Raducanu (Mitte rechts) umarmt ihre britische Kollegin Katie Boulter im Aorangi Park

(Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

Der beste Platz, um als Fotograf alle abzulichten, ist am Ende des kurzen Weges zu den Tennisplätzen. Auch Paul Zimmer hat sich in Stellung gebracht, der Stuttgarter ist der Roger Federer des Fotografierens. Eine Legende. Zum sagenhaften 44. Mal ist er in Wimbledon, er erklärt, was diesen Ort so einmalig macht. Zimmer zeigt nach links. Drei große Zelte, in die man reinblicken kann, sind aufgebaut. Im ersten macht gerade der brasilianischen Doppelspieler und Kumpel von Alexander Zverev, Marcelo Melo, ein paar Alibi-Dehnübungen. Im zweiten Zelt stemmt Frances Tiafoe Gewichte. Im dritten Zelt wird massiert und geknetet. Ganzheitlicher können Profis sich nicht vorbereiten.

"Wimbledon hatte lange den Ruf, altbacken zu sein", sagt Paul Zimmer, "aber heute setzt der Club Maßstäbe. Die haben überall ihr Ohr und sind dran an den neuesten Entwicklungen." Nur eines bedauert Zimmer: "Leider hat Wimbledon seine Borniertheit verloren." Er lächelt, dann erzählt er eine herrliche Geschichte: "1986 kam Boris Becker als Titelverteidiger nach Wimbledon zurück, und als er in der Umkleide war, fragte er höflich, ob sein Trainer Günther Bosch die Umkleide neben ihm haben kann. Da hat doch glatt ein hoher Offizieller gesagt: "Mister Becker, the tournament makes the player, not the player makes the tournament!" So war das damals.

Bei Angelique Kerbers Training hilft auch ihr Lebenspartner Franco Bianco mit - es geht persönlich zu

Im Aorangi Park ist von dieser alten Affektiertheit wenig zu spüren, wobei: Wichtig sind hier natürlich viele. Netflix dreht da drüben, im Dehn-Zelt, und hält 58 Mikrofone und Kameras über Swiatek, die sich eben dehnt. Darauf darf man sich dann auch in der Dokumentation freuen, die irgendwann mal kommen soll. Netflix begleitet die großen Turniere ein Jahr lang. Man wendet den Blick kurz ab von dieser skurrilen Szene - da steht Garbiñe Muguruza hinter einem. Oscar Otte, der neue deutsche Aufsteiger und beste DTB-Mann, da Zverev verletzt ist, ist so höflich und lässt die Spanierin zuerst die Stufen zu den Plätzen runtergehen.

Im Hintergrund übt Emma Raducanu, die junge US-Open-Siegerin. Man muss mehrmals zählen, so viele aus ihrem Team stehen auf dem Platz. Eins, zwei, drei - vier sind es! Bei Angelique Kerber, die auf Court 14 Bälle schlägt und an diesem Montag gegen die Französin Kristina Mladenovic ins Turnier einsteigt, sind auch mehrere Begleiter zugegen, etwa ihr Freund Franco Bianco (der Bälle zuwirft) und ihre Mutter Beata (die nur zuschaut).

Ein Rückzugsrefugium ist der Aorangi Park definitiv. Hier können sich die 128 Männer und 128 Frauen, die auf den begehrtesten Tennistitel hoffen, den letzten Schliff geben. Jeder trainiert meist eine Stunde lang. Wenn es dann zurück in den öffentlichen Bereich des All England Clubs geht, müssen alle, Nadal und Serena Williams und auch der Reporter, wieder die Akkreditierung zum Auschecken hochhalten. "Piep" - das normale Wimbledon hat einen wieder.

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