Soziale Pflichtzeit:Ein Bullerbü-Modell - nur leider unter Zwang

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SZ-Zeichnung: Denis Metz (Foto: Denis Metz)

Vorschlag des Bundespräsidenten wird überwiegend kritisiert als Billiglösung für Strukturprobleme bei Betreuung und Pflege.

"Liebe oder Pflicht" vom 14. Juni, "Was für eine Chance" vom 17. Juni und Kommentar "Anti-Ego-Jahr" vom 18./19. Juni:

Falsche Sozialromantik

Heribert Prantl träumt von einem Bullerbü, wo junge und alte Menschen sich an den Händen fassen und, vermutlich ein Lied auf den Lippen, gemeinsam einen irgendwie sozialromantischen Zwangsdienst verrichten. Diesen Traum träumen vermutlich vor allem die etwas Älteren in unserer Gesellschaft. In Wahrheit würden es nämlich die Jungen sein, die diesen Dienst recht exklusiv zu verrichten hätten. Ausgenommen sein sollen ja alle ehemals Wehr- oder Zivildienstleistenden sowie Eltern. Dann bleiben ja nur noch die Jüngeren übrig.

Eine Generation, die ohnehin jetzt schon immense Lasten auf den Schultern trägt und noch größere tragen wird: Klimakrise, Finanzkrisen, Rentenloch, alternde Gesellschaft, und so weiter.

Diese Generation tut genug für unser Land und wird noch mehr tun. Da brauchen wir mittleren und älteren Jahrgängen nicht daherzukommen und ihnen weitere Verpflichtungen aufzubürden. Das Grundgesetz ändern? Wie wäre es mit Klimaschutz oder Kinderrechten? Die allgemeine Dienstpflicht gehört jedenfalls auf den Misthaufen der Geschichte.

Dr. jur. Christian Rosner, München

Bevormundung bringt Frust

Ich selbst habe 15 Monate Zivildienst geleistet: In den Jahren 1990 bis 1992 war ich in einer privaten Göttinger Klinik das kostengünstige "Mädchen für alles". Es war eine Zeit, in der das durch das Abitur "nobilitierte" und in Leistungskursen mühsam errungene Wissen brachlag, in Vergessenheit geriet und durch einen kräftezehrenden Schichtdienst samt Nachtwachen völlig an Substanz verlor. Das Resultat dieser "Dienstpflicht": Ich fand daraufhin nicht mehr den Weg ins Studium zurück, sondern blieb auf halber Strecke zwischen oktroyiertem Arbeitsleben und Berufung stecken. Ich war krank geworden.

Vielen nach mir wurde dieser Irrweg erspart, und ich kann ihnen nur gratulieren.

Weder die Wehrpflicht noch der Zivildienst waren etwas, das Segen gebracht hätte: Beide waren unnötig und Ausdruck eines obsoleten Staatsverständnisses. Der jüngste Vorschlag von Herrn Steinmeier ist nichts als eine Verlegenheitsgeste: Es geht nicht darum, das Potenzial der Jungen zu erkennen oder gar zu fördern, sondern dieser Generation per se "Egoismus" zu unterstellen. Wie albern und geschichtsblind ist das?

"Egoismus" würde voraussetzen, dass ein Mensch weiß, wer er ist: Diese Selbstfindung ist bei den meisten Jugendlichen heute noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Vielleicht erlauben wir der jungen Generation zuerst einmal, ein Ego zu entfalten, um dann aufgrund dieser Selbsterkenntnis freiwillig zu erkennen, wie es zum Segen für andere werden kann - Zwangsmittel bewirken genau das Gegenteil! Hüten wir uns vor dieser erwachsenenpädagogischen Bevormundung: Sie wird nur frustrierte Menschen hervorbringen.

Sebastian Bernard Dégardin, Hamburg

Eignung und Freiwilligkeit

Soziale Sachen, das wissen wir spätestens aus den sogenannten sozialen Netzwerken, können leider auch sehr unsozial sein. Die diskutierte soziale Pflichtzeit erinnert mich an die Variationen richterlicher Bestrafungsmethoden für meist jugendliche Täter. Die mussten dann, zum Beispiel, in München in der Sonnenstraße beim Vorlesedienst für Blinde antreten. Wer, wie ich, in der Nebenkabine die überwiegend gescheiterten Ins-Mikro-Leseversuche der dazu Verdammten mitbekam und sich vorstellte, mit welchen akustischen und inhaltlichen Zumutungen die blinde Kundschaft da malträtiert wurde, der sollte vielleicht Begriffe wie Eignung und Freiwilligkeit unbedingt mitdenken.

Angelika Boese, München

Chance zu gerechtem Ausgleich

Alles, was Sie in Ihrem Kommentar "Dienstpflicht: Ein Anti-Ego-Jahr" schreiben, ist bedenkenswert. Doch einen wichtigen Aspekt vermisse ich: die Ungleichheit der Geschlechter in der Verteilung von Haushalts- und Fürsorgearbeit. Wer hilft der Mama im Haushalt, wenn die Buben draußen Fußball spielen? Wer geht in Erziehungsurlaub, während die Gatten Karriere machen? Wer reduziert die Berufstätigkeit, um die Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen? Wer erzieht die Kinder ohne oder mit zu wenig Unterhalt, während der Ex sein zweites Leben beginnt? Wer pflegt die Alten und Kranken, wenn die Männer in ihren besten Jahren sind?

Noch ein Jahr länger, bevor man Karriere machen kann, ist für Frauen ungerecht, nicht nur, weil die biologische Uhr tickt. Aber eigentlich ist Ihr Vorschlag ja gar nicht so schlecht, wenn man ihn ein wenig verbessert: Männer machen ihr Anti-Ego-Jahr vor ihrer Karriere, um ein wenig Demut und Fürsorglichkeit zu lernen. Frauen machen es - wie schon jetzt viele - ehrenamtlich, wenn sie in Rente sind, sie haben ja die höhere Lebenserwartung.

Solange es keine Gendergerechtigkeit gibt, wäre ein solches Vorgehen zur Beseitigung der Benachteiligung von Frauen gerechtfertigt.

Claudia Mennel, München

Als Bildungspflichtjahr gestalten

Bundespräsident Steinmeier zeigt mit seinem Vorschlag, ein soziales Pflichtjahr für alle einzuführen, dass er am Puls der Zeit ist. Zwei Drittel der jungen Leute sind nach Umfragen dafür. Die Erfahrungen im freiwilligen sozialen Jahr (FSJ) sind sehr positiv bewertet, besonders für die Persönlichkeitsentwicklung. Ich schlage vor, das "Pflichtjahr" als Bildungsinitiative zu begreifen und zu gestalten. Mit dem Ziel, in sozialen und ökologischen Tätigkeiten grundlegende Sorge- und Pflege-Kompetenzen zu erwerben. Solche Care-Kompetenzen brauchen alle andauernd im Leben - bei der Sorge für Kinder, Partner, Familienangehörige, alt Gewordene, Kolleginnen und Kollegen ... Auch die eigene psychische Gesundheit, das Gemeinwohl und unser Planet verlangen nach unseren Sorge-Qualitäten. Dann sollte man das Jahr auch so nennen: "Bildungsjahr" oder "Pflicht- und Bildungsjahr" - natürlich für alle!

Albin Zeck, Scheßlitz

Schlicht ungerecht

Ein sozialer Pflichtdienst, wie von Bundespräsident Steinmeier vorgeschlagen, ist fadenscheinig, ungerecht und unverhältnismäßig.

Der Vorschlag ist fadenscheinig, weil er vorgibt, etwas anderes leisten zu wollen, als kostengünstig die vielen strukturellen Probleme des Landes im Sozialbereich aufzufangen. Es ist pure, zynische Marktlogik, wenn Zwangsverpflichtete das Versagen der Märkte im Sozialsektor wieder richten sollen. Damit bleiben die privaten Gewinne aus Pflegeeinrichtungen unangetastet und Konsequenzen wie der Mangel an Pflegekräften und die schändliche Vernachlässigung von Pflegebedürftigen werden der (jungen) Allgemeinheit aufgebürdet. Wollte man tatsächlich die Möglichkeiten zum sozialen Lernen junger Menschen verbessern, dann wäre eben eine Reduzierung der Marktlogik im Bildungswesen vonnöten (zum Beispiel durch eine Bafög-Reform), ebenso wie die überfälligen Investitionen in Bildungschancen und Bildungseinrichtungen.

Wenn der Sozialsektor als Perspektive gestärkt werden soll, dann muss eben der Bundesfreiwilligendienst durch eine faire Bezahlung attraktiver gemacht werden.

Der Vorschlag ist ungerecht, weil junge Menschen am wenigsten dafür verantwortlich sind, dass die Situation im sozialen Sektor so katastrophal werden konnte, und wenig Einfluss auf die Gesetze haben, welche ihre Zwangsrekrutierung ermöglichen würden: Viele werden zum Zeitpunkt der entsprechenden Abstimmung noch nie bei einer Bundestagswahl gewählt haben. Diejenigen, die wählen konnten, sind in einer krassen Minderheit gegenüber denjenigen, die durch den Vorschlag wenig zu verlieren haben.

Dabei sind die relativen Kosten eines verlorenen Ausbildungs- oder Berufsjahres für junge Menschen besonders hoch. Sie haben ohnehin geringe Chancen, einen ähnlich hohen Lebensstandard wie ihre Eltern zu erreichen, geschweige denn, eigenen Grund und Boden zu erwerben. Sie werden bis zum Alter von 67 arbeiten und dabei eine riesige Anzahl Rentner/-innen und Pensionär/-innen finanzieren müssen. Und sie werden die volle Wucht der Klimakrise, die ihre Eltern- und Großelterngenerationen zu verantworten haben, spüren.

Doch ist das Jahr wirklich verloren? Ökonomisch ja, denn gerechnet auf eine Berufslaufbahn geht de facto eines der späteren Berufsjahre verloren, in denen die betroffenen Menschen statistisch besser verdienen würden als in der ersten Lebenshälfte. Die kargen Lehrjahre - inklusive schlecht bezahlter Praktika - werden sie dennoch durchlaufen müssen.

Der Vorschlag ist unverhältnismäßig, weil es eine lange Liste an alternativen Maßnahmen gibt, welche den Sozialsektor stärken können, ohne die Freiheitsrechte junger Menschen einzuschränken. Die notwendigen Fachkräfte im Sozialsektor können durch bessere Arbeitsbedingungen und Löhne gewonnen werden. Diese können zum Beispiel dadurch finanziert werden, dass Kapitalerträge mindestens so stark besteuert werden wie Einkommen durch Arbeit, dass exorbitant hohe Erbschaften besteuert werden, dass Steuerschlupflöcher für große Konzerne geschlossen werden und dass Beamtinnen und Beamte in Renten- und Sozialkassen einzahlen. Die Maßnahmen sollten ergänzt werden mit einem Gesetz zur Einwanderung und Integration von Fachkräften. Erst wenn diese Maßnahmen ausgeschöpft sind, ist ein Diskurs über einen Pflichtdienst redlich - am besten nach Ende des Berufslebens.

Jan Dirk Capelle, Osnabrück

Lernchancen auch für Banker

Im Prinzip fand ich den Meinungsbeitrag sehr lesenswert, allerdings ist in meinen Augen der Zusammenhang, "vielleicht wäre die Finanz- und Börsenkrise anders verlaufen, wenn die Banker früher einmal gelernt hätten [...]", so nicht korrekt. Ich gehe davon aus, dass er sich auf die Finanzkrise 2008 bezieht, zu diesem Zeitpunkt war die seit Juli 1956 eingeführte Wehrpflicht noch nicht ausgesetzt, genauso wenig wie der 1961 als Wehrersatzdienst eingeführte Zivildienst. Dies geschah erst zum Juli 2011. Somit hätten zumindest die Banker in Deutschland, die zu dieser Zeit a) in leitenden Positionen waren und b) vermutlich vor allem männlich (schaut man sich die Verteilung Mann/Frau in leitenden Positionen in Banken an) waren, durchaus bereits die Möglichkeit gehabt, den Blick über den Selbstoptimierungstellerrand gehabt zu haben.

Dr. Sabine May, Ingelheim

Raus aus der Komfortzone

Auch ich als 70-Jährige, die erst im sozialen Bereich als Pädagogin und dann als Anwältin tätig war (und im kräftemäßig passenden Rahmen noch bin), finde einen solchen altersübergreifenden sozialen Einsatz unbedingt wert, verwirklicht zu werden. Er bringt soziale Erfahrungen außerhalb der eigenen bekannten Komfortzone. Er bietet die Chance für junge Menschen, sich auszuprobieren, für Ältere oder im Ruhestand befindliche, geistig, sozial, mental und körperlich aktiv zu bleiben. Der Umfang ist an Alter und Kraft entsprechend anzupassen. Jedem Menschen erschließt sich sofort: Eine solche Zeit eröffnet Welten!

Anna Wesener, Lassan

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© SZ vom 02.07.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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