Urteil:Straßburger Gerichtshof bestätigt Tarifeinheitsgesetz

Urteil: Streik der Piloten: Berufsgruppen in Schlüsselpositionen können mit geringem Aufwand erhebliche Wirkung bei den Tarifverhandlungen erzielen.

Streik der Piloten: Berufsgruppen in Schlüsselpositionen können mit geringem Aufwand erhebliche Wirkung bei den Tarifverhandlungen erzielen.

(Foto: Uwe Anspach/dpa)

Das deutsche Gesetz, das verhindern soll, dass einzelne Berufsgruppen zu viel Macht bei Tarifverhandlungen erzielen können, ist mit der Menschenrechtskonvention vereinbar, so das Gericht.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Streiks der Spartengewerkschaften, seien es Lokführer oder Piloten, hatten das Problem sichtbar gemacht: Berufsgruppen in Schlüsselpositionen können mit geringem Aufwand erhebliche Wirkung innerhalb ihrer Branche erzielen. Der Gesetzgeber hat daher versucht, ihre Macht mit dem Tarifeinheitsgesetz zu brechen. Die Regelung sollte dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft den Vorrang einräumen. Das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz 2017 weitgehend gebilligt, allerdings mit Bauchschmerzen. Deshalb war man sehr gespannt, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies sehen würde; immerhin genießen Gewerkschaften auch den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention. An diesem Dienstag hat der Gerichtshof nun sein Urteil gesprochen - das deutsche Gesetz ist mit der Konvention vereinbar.

Geklagt hatten unter anderem der Marburger Bund und ebenjene Gewerkschaft der Lokführer (GDL), weil sie ihre Position geschwächt sahen. Nicht ganz zu Unrecht, die Regelung ging seinerzeit auf einen politischen Kompromiss zwischen DGB und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zurück. Auch nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts war das Gesetz deutlich übers Ziel hinausgeschossen, und zwar zu Lasten der Kleinen. Mit großem interpretatorischem Aufwand mühte sich Karlsruhe, die schädlichen Wirkungen des Gesetzes abzumildern, etwa die Verdrängungswirkung, die von den Mehrheitstarifverträgen ausgeht.

In dieser Softversion hat der Menschenrechtsgerichtshof nun das Tarifeinheitsgesetz bestätigt. Er akzeptiert den Ausgangspunkt der Regelung, der letztlich ein Dilemma umschreibt. Einerseits genießen auch kleine Gewerkschaften die Freiheit von Grundgesetz und Menschenrechtskonvention. Andererseits könnten sie ihre Verhandlungsmacht aus ihren Schlüsselpositionen heraus auch dazu nutzen, Sondervereinbarungen zum Nachteil der anderen Beschäftigten auszuhandeln.

Der Kompromiss, den der deutsche Gesetzgeber zum Ausgleich dieser Positionen gefunden hat, ist aus Sicht des Gerichtshofs verhältnismäßig, weil die kleinen Gewerkschaften immer noch einen Kern an Rechten und Möglichkeiten behalten. Vor allem deshalb, weil sie die Tarifverträge der Mehrheitsgewerkschaft nachzeichnen, sich also deren Erfolge zu eigen machen können. Zugleich gewichtet der Gerichtshof auf ihrer Habenseite weitere Minderheitsrechte, die ihnen das Verfassungsgericht zugebilligt hatte, etwa ein Anhörungsrecht. Man kann also mutmaßen: Ohne die Nachhilfe aus Karlsruhe hätte das Tarifeinheitsgesetz vor dem Straßburger Gerichtshof schlechte Chancen gehabt - zumal zwei der sieben Straßburger Richter mit Nein gestimmt haben.

Derweil hat das Verfassungsgericht am selben Tag selbst eine Entscheidung zum Thema Kleingewerkschaften veröffentlicht. Dort geht es um die Frage, wann eine Gewerkschaft tariffähig ist. Geklagt hatte die "Berufsgewerkschaft e.V." (DHV), der das Bundesarbeitsgericht (BAG) vergangenes Jahr die Tariffähigkeit abgesprochen hatte, weil sie nicht über genügend Durchsetzungskraft verfügt.

Aus Sicht des BAG spielt hier der Organisationsgrad eine Rolle. Bei der DHV lag dieser Organisationsgrad deutlich unter dem Schwellenwert von 1,6 Prozent, den das BAG einmal formuliert hatte. Ursache war eine Satzungsänderung von 2014. Die DHV selbst hatte ihre Tarifzuständigkeit auf zahlreiche Branchen erweitert, von der Fleischindustrie bis hin zu Reiseveranstaltern. Und geriet damit in das Dilemma kleiner Gewerkschaften: Sie wollen Mitglieder gewinnen, indem sie neue Felder beackern, aber schwächen dadurch zugleich ihre eigene Durchsetzungskraft, weil sie in ihren neu formulierten Zuständigkeitsbereichen zwangsläufig dünner organisiert sind. Am Ende droht, wie bei der DHV, der Verlust der Tariffähigkeit.

Das Verfassungsgericht hat gegen die Linie des BAG nichts einzuwenden. Durch sie werde sichergestellt, dass nur Vereinigungen am Tarifgeschehen beteiligt seien, die "ein Mindestmaß an Verhandlungsgewicht und damit eine gewisse Durchsetzungskraft gegenüber dem sozialen Gegenspieler aufweisen".

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