Marc Degens: "Selfie ohne Selbst":In den Abgründen der Autofiktion

Marc Degens: "Selfie ohne Selbst": "Ich würde mich als so eine Art leicht dümmlichen Dampfplauderer charakterisieren": So sieht sich Marc Degens in den Augen seines ehemaligen Mentors Michael Rutschky.

"Ich würde mich als so eine Art leicht dümmlichen Dampfplauderer charakterisieren": So sieht sich Marc Degens in den Augen seines ehemaligen Mentors Michael Rutschky.

(Foto: Martha Ka)

Von den Tagebüchern seines Mentors Michael Rutschky fühlte sich Marc Degens tief gekränkt. Dann schrieb er ein Buch darüber.

Von Lothar Müller

Ein Mann, Autor und Verleger, öffnet die PDF-Datei mit dem dritten Band der Tagebücher eines verstorbenen Kollegen, der sein Mentor war und den er bewundert. In das Suchfeld tippt er seinen Namen ein, in der Hoffnung, keinen Treffer zu erzielen. "Meine Hoffnung erfüllt sich nicht." Das auf Stellen hin Lesen hat etwas Raubvogelartiges und setzt Suchbefehle voraus. Es ist auf "scharfe" Stellen aus, bei denen es einrasten kann. Oder ein Verdacht treibt die Lektüre voran, der sich der verräterischen Signalwörter sicher ist, die ihn erhärten können. Eifersüchtige oder Zensoren lesen auf Stellen hin, aber auch Philologen, die einem Motiv auf der Spur sind.

Es verwundert nicht, dass der derzeitige Erfolg der "Autofiktion" mit einem heftigen Aufschwung einer Elementarform dieser alten Kulturtechnik verbunden ist, der Namenssuche. Komme ich vor? Kommt X vor, oder Y? Und wie komme ich weg, kommt X, kommt Y weg? Zwar gilt theoretisch die Formel, dass sich die schreibende Person im Text in eine "Ich-Figur" verwandelt und diese "Literarisierung" alle erwähnten Personen erfasst. Aber die Lebensnähe des Genres bringt es mit sich, dass die leibhaftigen Namensträger kaum umhin können, ihr Gegenüber im Text mit ihren Selbstbildern zu vergleichen.

Für den dritten Band der Tagebücher musste das Wort "unwohlwollend" erfunden werden

So druckt im Frühjahr 2019, als der Berenberg Verlag ihm ein PDF mit dem dritten Band der Tagebücher des Essayisten Michael Rutschky zuschickt, Marc Degens die insgesamt 32 Treffer seiner Namenssuche aus und hält seinen Lektüreeindruck so fest: "Ich würde mich als so eine Art leicht dümmlichen Dampfplauderer charakterisieren. Ein genetisch degenerierter Spross einer Alkoholikersippe. Doof, hübsch anzusehen, aber zu dick. Mich stören die vielen Verdrehungen und Ungenauigkeiten in den Gesprächszusammenfassungen. Die Stoßrichtung stimmt, doch die Details sind ungenau und es fehlen die Zwischentöne."

Marc Degens: "Selfie ohne Selbst": Michael Rutschky scharte einen Kreis einflussreicher Essayisten um sich. Am 17. März 2018 starb er in Berlin.

Michael Rutschky scharte einen Kreis einflussreicher Essayisten um sich. Am 17. März 2018 starb er in Berlin.

(Foto: Matthias Reichelt/imago images)

Sein Mentor, der im März 2018 an Krebs verstorben war, hatte das Material für diesen Band seinem Nachlassverwalter Jörg Lau und seinem Freund, dem langjährigen Merkur-Redakteur Kurt Scheel übergeben, der die Druckfassung erstellte. Als das Buch unter dem Titel "Gegen Ende. Tagebuchaufzeichnungen 1996-2009" erschien, war auch Scheel tot, er hatte sich Ende Juli 2018 das Leben genommen. Zuvor hatte er ein Vorwort fertiggestellt und darin das Wort "unwohlwollend" erfunden, um das Verletzende, Bloßstellende im Schreiben Rutschkys, das auch ihn selbst betraf, in einer Weise zu bezeichnen, die das gemeinsame Ideal der Coolness und Souveränität nicht ganz aufgab. Schon während der Editionsarbeit hatte er in seinem Blog über diese düstere Seite des Materials berichtet.

Am Ende hatte er schweren Herzens dem Freund und Freundschaftsverräter attestiert, ein bedeutendes Buch geschrieben zu haben. Eine große Rolle spielte dabei, dass Rutschky nicht in der ersten Person von sich sprach, sondern das Ich in die Chiffre "R." transformiert hatte. Das ließ sich als Gütesiegel der "Literarisierung" deuten.

Nun also musste Marc Degens auf den wenigen Seiten, die er ausdruckte, lesen, er sei ein dick Dampfplauderer, der Bücher in den Urlaub zwar mitnehme, aber nicht lese. Das schmale Buch, das er nun geschrieben hat, ist aus dem Kränkungspotential der wenigen Seiten hervorgegangen, die er daraus ausgedruckt hat. Es ist selbst Autofiktion, entlanggeschrieben am Leben des Gekränkten.

Marc Degens: "Selfie ohne Selbst": Marc Degens: Selfie ohne Selbst. Berenberg Verlag, Berlin 2022. 88 Seiten, 18 Euro.

Marc Degens: Selfie ohne Selbst. Berenberg Verlag, Berlin 2022. 88 Seiten, 18 Euro.

Degens berichtet, wie er vom Tod des Mentors erfährt, dessen Bücher aus dem Regal zieht, nebeneinanderlegt, fotografiert und das Bild postet. Wie er nach der Lektüre der Namensstellen nur noch unwillig an einer Kollektivlesung aus den Tagebüchern im Berliner Literaturhaus teilnimmt. Wie er mit Freunden über Rutschky, spricht, die Rezensionen liest und kommentiert. Wie ihn während einer Rundfunkaufnahme in Hamburg, bei der er sein Verlagsprogramm vorstellen darf, Wut und Enttäuschung überkommen und er im Mentor plötzlich nur noch die "Sensationsgier", das "toxische Männlichkeitsdenken", das "unangenehme Treten nach unten und Buckeln nach oben" sieht.

Die "Reihe für Autofiktionen", die er verlegt, gibt es nur, weil Marc Degens daran glaubt, "dass in diesem Feld einige der zur Zeit interessantesten literarischen Texte entstünden, was auch mit dem Bedeutungsabfall, was auch mit dem Bedeutungsabfall anderer literarischer Gattungen zu tun habe, etwa dem Roman, erwachsen aus der starken Konkurrenz zu Fernsehserien, Streaming, Social media, Computer und Rollenspielen." Er ist ein Kollateralschaden des Aufblühens der Autofiktion, zu dem er begeistert beiträgt. Am Ende kopiert er eine Idee des Mentors, der in der Nachwendezeit einer Nummer seiner Zeitschrift "Der Alltag" den Titel gegeben hatte: "Wie erst jetzt die DDR entsteht." Für die DDR setzt Degens Rutschky ein, in einer nicht eben schmeichelhaften Rolle. Das Schlussbild friert ihn als Westberliner Pendant zu Sascha Anderson ein, als Verräter mitten im Kreis, der diesen, wenn nicht an die Stasi, so doch ans Publikum verrät.

Gegen das letzte Buch seines Mentors setzt er die Abwehrmauer des Nichtlesens

Aber nicht diese Revanche ist die markantestes Geste dieses Buches, sondern die Konsequenz der Suche nach dem eigenen Namen, die Nicht-Lektüre des Resttextes. Mitten im Buch besucht er einen befreundeten Journalisten hervor, der Rutschkys Tagebuch gelesen, mit ihm nahestehenden Autoren über den Text gesprochen hatte und darüber einen ausführlichen Artikel geschrieben hatte. Diesem Journalisten berichtet er, "dass ich das Tagebuch nur überflogen und nicht gelesen habe und nur meine Stellen, die vorgelesenen Passagen aus dem Literaturhaus und die Zitate aus den Besprechungen kenne". So bleibt ein Text ungelesen, der sich in den peinlichen Selbstentblößungen eines alternden Mannes, dem Hadern mit den Grenzen des eigenen Erfolgs, dem Unwohlwollen gegenüber den Mitmenschen nicht erschöpft. Ungelesen bleiben die Toten der älteren Generation, die Kindheit und Jugend in den vielen Traumprotokollen, ungelesen die epiphanischen Momente der Erfahrung des Naturschönen, in denen der soziologische Feinmaler, als der Rutschky berühmt ist, beiseite tritt, weil es gilt, die Lichtspiele über einer Landschaft in Rügen in Worte zu fassen.

Der Index, auf den Marc Degens das letzte Buch seines Mentors setzt, ist eine Abwehrmauer. Sie schränkt die Begeisterung für Autofiktion allenfalls praktisch ein, ohne theoretisch-reflexive Effekte. Die Kränkung rivalisiert im übrigen mit der Restverehrung, die er dem Mentor entgegenbringt. Dieser Restverehrung entspringt das Kompliment, der Mentor habe in seinen Tagebuchbänden im Grunde eine Romantrilogie geschrieben, bestehend aus einem "Angestelltenroman", einem "Wenderoman" und nun einem "Künstlerroman". Das Lob klingt ein wenig hohl. War nicht die Romanform eben noch vollkommen ausgelaugt, zu nichts mehr zu gebrauchen und musste dringend von der Autofiktion abgelöst werden? Und wie kann Degens das Prädikat "Künstlerroman" einem Text anheften, den er doch gar nicht gelesen hat? Steht das nicht quer zu dem Satz von Wolfgang Herrndorf, den er zustimmend zitiert: "Weil Literaturkritik sich mit Werkkritik immer wenig aufhält, rutscht das dann immer gleich ins Persönliche"?

Schon in den unmittelbaren Reaktionen auf den dritten Band von Rutschkys Tagebüchern war die Formel allgegenwärtig, hier habe jemand in seinem letzten Buch doch noch den Roman geschrieben, nach dem er sich immer sehnte. Die Vergabe des Romanprädikats war aber nur ein Abwehrzauber gegen die Zumutungen der Autofiktion. Das Buch von Degens zeigt, wie schwach dieser Abwehrzauber ist.

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