Nachruf auf Erica Pedretti:Gefallene Flügel

Nachruf auf Erica Pedretti: Erst als sie ihre fünf Kinder großgezogen hatte, fühlte sich Erica Pedretti "berechtigt, fast verpflichtet, das Undenkbare auszudrücken", wie sie der SZ im Jahr 1985 sagte.

Erst als sie ihre fünf Kinder großgezogen hatte, fühlte sich Erica Pedretti "berechtigt, fast verpflichtet, das Undenkbare auszudrücken", wie sie der SZ im Jahr 1985 sagte.

(Foto: Sandro Campardo/dpa)

Die Künstlerin und Schriftstellerin Erica Pedretti schuf monumentale Skulpturen und vorsichtig tastende Erzählungen. Mit 92 Jahren ist sie in der Schweiz gestorben.

Von Marie Schmidt

Vom Verlieren eines Ortes und dem Fremdbleiben, vielleicht lebenslang, handelte ihr erstes Buch "Harmloses, bitte" von 1970 und ihr letztes, die schmale Erzählung "Fremd genug" von 2010. Darin erzählte Erica Pedretti auch von jenem Rotkreuztransportzug, der spät im Jahr 1945 aus Warschau über Auschwitz und Prag gekommen war und in dem sie mit Überlebenden der KZs und anderen Reisenden weiterfuhr aus Nordmähren in Tschechien in die Schweiz.

1930 war sie als Erica Schefter in Šternberk geboren worden. Ihr Vater, selbst Autor und Seidenfabrikant, war im Krieg als Antifaschist inhaftiert und wurde danach als Deutscher abermals festgehalten. Erica und ihre Geschwister konnten zu Verwandten nach Zürich reisen, wo sie die Kunstgewerbeschule besuchte. Weil sie nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis hatte, ging sie 1950 in die USA, wo sie als Gold- und Silberschmiedin arbeitete. Erst als sie 1952 ihren Schulfreund, den Bildhauer Gian Pedretti, heiratete, konnte sie in die Schweiz zurückkehren. Das Paar bekam fünf Kinder.

Zuerst bekannt wurde Erica Pedretti mit künstlerischen Arbeiten, etwa Flügelskulpturen aus Holz, Stoff, Latex, wie heruntergefallene Schwingen monumentaler Insekten oder Engel. Erst mit vierzig Jahren begann sie literarisch zu veröffentlichen und bekam 1984 den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Text "Das Modell und der Maler", der beschreibt, wie Ferdinand Hodler das Sterben seiner Lebensgefährtin Valentine Godé-Darel malt, das ihm Angst macht, "solange es nicht irgendwie gebannt, sichtbar gemacht und damit kontrollierbar wird".

Solchen machtbewussten Ästhetiken gegenüber war Erica Pedretti mit ihrer versuchenden, fragmentarischen, organischen Formensprache eine bedeutende Stimme in einer Zeit, in der man sich fragte, was das sein könnte: weibliche Kunst und weibliches Schreiben. Mit 92 Jahren ist Erica Pedretti nun in Graubünden gestorben.

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